2011/02/20

Kunst und Wahrheit


Alla Domokos - Underground
Für Eva Karcher sind Künstler in der Wüste des Realen angekommen, wenn sie 'ihre Souveränität gegenüber der Realität preisgegeben' haben. Für Karcher ist das einzigartige Privileg der Kunst 'das Vorrecht ihrer Distanz zur Realität'.

Hat Eva Karcher Recht? Welches Verhältnis hat Kunst zur Wahrheit? Welche Position beziehen hierzu die  einzelne Künstler?
Alla Domokos - Underground

Im Film von Walter Smerling 'Arbeiten für die Ewigkeit' sagt der Maler und Bildhauer Markus Lüpertz:

"Ich glaube einfach, dass es keine Wirklichkeit gibt, sondern eine erfundene, eine erträumte, eine erlebte, eine behauptete Wirklichkeit gibt, nämlich, dass was passiert. Was draussen passiert, wie das Leben ist, ist so banal, dass es nicht erwähnenswert ist. Also die Tatsache, dass man lebt, ist einfach zu wenig um darüber etwas zu befinden. Man muss diesen Defekt leben, den muss man mit Dingen füllen, die voller Geheimnisse, die voller Geschichten, voller Lügen, voller Irrgärten, und voller Irrwege sind. Sonst ist das kein Leben, was wäre das denn sonst? Sie müssen sonst sich selbst erfinden. Du musst dich selbst in dieser Welt erfinden, Du musst dir selbst diese Welt formen, Du musst dir selbst diese Welt erträglich machen. Wenn Du nur auf der Tatsache lebst, dass es dich gibt, dass ist dann wirklich das Ende von allem, ne?"

Damit skizziert Markus Lüpertz das Bild. Ein selbstbewusster Künstler. Es ist bedenkenswert. Die Wertsetzung eines Künstlers. Das führt zu einer spannenden Frage: Denken wir uns die Kunst als eine Bestimmung? Oder stellen wir sie uns vor als eine Profession? Hat die Kunst eine gesellschaftliche Aufgabe, oder zumindest eine gesellschaftliche Funktion? Welche? Welche Werthaltungen stehen bei der Kunst an der Spitze? Wie sieht ihre Wertehierarchie aus? Ist eine solche Wertehierarchie in der Kunst überhaupt denkbar? Wenn ja, welche Werte, welche Werthaltungen kämpfen um die Plätze auf den oberen Rängen? Wie unterscheiden sich die spezifischen Wertsetzungen der Kunst von den Prioritäten anderer Berufe? Welche Werte stehen zum Beispiel hoch im Kurs bei Wissenschaftlern? Welche Werte finden sich bei Journalisten? Und woran orientieren sich Politiker, Manager etc.
Alla Domokos - Underground

Der Künstler Ad Reinhardts brachte eines auf den Punkt: "Kunst ist Kunst und alles andere ist alles andere" (zitiert nach Eva Karcher, 2007). Damit stellt sich die Frage nach der Identität einer ganz bestimmten Gruppe von Menschen, die sich Künstler nennt, beziehungsweise die als Künstler bezeichnet werden. Wodurch zeichnet sich ein Künstler aus? Womit können sich Künstler identifizieren? Wie grenzen sie sich zu anderen Menschen ab? Ich befürchte, dass Reflexionsniveau hinsichtlich spezifischer Werte womöglich niedrig ist. Aber ist es wirklich so niedrig wie bei anderen Menschen? Da möchte ich noch einmal sticheln und zu einem spielerischen Umgang mit den Übungen zur Wertehierarchie anregen. Doch vorab möchte ich mich noch dem Begriff der Wahrheit zuwenden.      

Konstruktivisten haben einen recht flexiblen Wahrheitsbegriff. In der Erkenntnistheorie und der Wissenschaftstheorie wurde der Begriff der Wahrheit problematisiert. Karl Popper wies in seinem Buch  'Logik der Forschung' nach, dass Sätze über die Realität niemals bewiesen werden können. Die Verifikation einer Aussage ist unmöglich. Das weiß zwar nicht jeder, aber es ist ja auch nicht jeder ein Wissenschaftler. Dennoch macht es Sinn, sich mit den Grenzen der Wissenschaft auseinanderzusetzen. Innerhalb dieser Grenzen ist es jedoch möglich, eine Aussage über die Realität kritisch zu prüfen. Und genau das ist nach Popper die einzig legitime Aufgabe der Wissenschaft. Sie soll nicht versuchen, etwas zu beweisen. Das macht keinen Sinn, vielleicht für den einen oder den anderen Auftraggeber, aber nicht für eine ernsthafte wissenschaftliche Forschung. Die wissenschaftliche Forschung kann nichts beweisen, sie kann aber - das ist ihre Aufgabe - versuchen, Aussagen über die Realität zu widerlegen. Und das ist das einzige, was sie kann. Die Aufgabe der Wissenschaft ist eine kritische. Wissenschaft kann durchaus einen Beitrag zur Wahrheitsfindung leisten. Wenn sie kritisch ist. Wenn sie prüft. Eine systematische wissenschaftliche Prüfung versucht eine Hypothese zu widerlegen. Sie versucht es ernsthaft, nicht halbherzig. 
Alla Domokos - Underground

Wenn sie falsche Annahmen über die Realität aufdeckt, feiert sie ihren Erfolg. Alles andere dient der Vorarbeit. Der Versuch etwas zu beweisen, gehört in ein anderes berufliches Profil. 
Wissenschaft operiert an der Grenze von Wahrheit und Unwahrheit. Ein Wissenschaftler ist in erster Linie kritisch, erst dann womöglich ein Konstruktivist. Die Entwicklung einer Theorie ist ihm nicht verboten, aber sie ist nicht sein Kerngeschäft. Theoretisieren und Verifizieren ohne ernsthaft das eigene Konstrukt in Frage zu stellen, ist in der Wissenschaft entsprechend mehr als fragwürdig. Im Gegensatz zum Künstler und im Gegensatz zum Konstruktivisten orientiert sich ein Wissenschaftler ganz klar an der Wahrheit. Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann bezeichnete entsprechend die 'Wahrheit' (Wahrheit versus Falschheit) als Leitdifferenz der Wissenschaft.       
Alla Domokos - Underground

In der Politik wird der Begriff der Wahrheit immer wieder etwas flexibler gehandhabt. Da die Aufgabe der kritischen Prüfung nach 1945 in Deutschland von einer freien Presse übernommen werden sollte, wurde diese später neben Legislative, Exekutive und Judikative auch als 4. Gewalt bezeichnet. Als Beobachter der Beobachter (Journalisten) beschreibt Tom Schimmeck (selbst Journalist) Mechanismen, die dazu führen, dass viele politische Journalisten ihre kritische Aufgabe nicht mehr wahrnehmen. Das ist ein sehr spannendes aber auch sehr interessantes Problem in unserer Gesellschaft.
Hier hilft eventuell eine gewisse Selbstreflexion über Fragen wie zum Beispiel:
Alla Domokos - Underground

Wie sieht eigentlich die Wertehierarchie konkreter politischer Journalisten aus? Und wie sollte die Wertehierarchie eines idealtypischen Journalisten aussehen? Diese Fragen sind notwendig. Diese Fragen sind hilfreich. Diese Fragen können helfen etwas Wichtiges zu klären. Davon gehe ich aus.

Wer sich hier verrennt, ist sicher nicht alleine. Denn es lassen sich Parallelen finden. Zum Beispiel bei  'Wissenschaftlern', die sich den Zielen parteilicher Auftraggeber so verpflichtet fühlen, dass sie ihre eigentliche Aufgabe als Wissenschaftler in den Wind schießen. Wir erinnern uns: Die Aufgabe des Wissenschaftlers ist eine kritische, es geht um die Ausgrenzung des Falschen. Für den politischen Journalisten, der seine Aufgabe nicht mehr angemessen wahrnimmt, findet Schimmeck wenig schmeichelhafte Worte wie Ja-Sager, Schmeichler, Hofnarr, Werber und auf der Ebene des Verhaltens: Hofschranzentum, Handlanger der Macht etc. Dieses abweichende Verhalten ist offenbar nicht zeitspezifisch, wie sein bissiges Zitat von Kurt Tucholsky zeigt: "Der deutsche Journalist braucht nicht bestochen zu werden, er ist stolz, eingeladen zu sein, er ist schon zufrieden, wie eine Macht behandelt zu werden." (Tom Schimmeck, 2010, 73)
Alla Domokos - Underground
    
Wenn Politiker flexibel mit der Wahrheit umgehen, mag man ihnen das vielleicht noch nachsehen, immerhin haben sie den Auftrag die Welt zu verändern, Regeln zu setzen für eine verbesserte Welt. Doch es ist etwas anderes, eine bessere Welt zu entwerfen und für diese einzustehen. Aber genau gesehen, ist das dann doch noch keine Abwendung von der Wahrheit. Das ist auch noch keine Lüge. Ein funktionierender Politiker ist ein Handelnder, einer, der etwas bewegt. Aber er ist kein Lügner. Oder doch? In der Demokratie meines Verständnisses ist er es zumindest nicht und sollte er es auch nicht sein.

Die erste Aufgabe eines Unternehmers besteht nicht darin, die Wahrheit zu suchen. Ein Unternehmer muss dafür sorgen, dass Geld reinkommt, sei es für ihn, sei es für seine Angestellten. Soll er Geld für die Allgemeinheit bereitstellen, bedankt er sich. Statt Steuern zu zahlen, wird investiert. Außerbetriebliche Forderungen, sprich Steuern, sind dem Unternehmer eine Last. Warum Steuern zahlen, wenn stattdessen investiert werden kann? Der Unternehmer ist zunächst seiner Firma verpflichtet. Deshalb wehren sich Unternehmer zum Beispiel gegen Maschinensteuern oder gegen eine Besteuerung der Wertschöpfung. Der Auftraggeber ist nicht die Allgemeinheit. Naiv oder dumm, wer sich etwas anderes einreden lässt.

In jeder größeren Gemeinschaft gibt es eine Arbeitsteilung. Da hat jeder eine andere Aufgabe. Und so hat jede Person, ableitbar aus ihrer beruflichen Funktion, und damit es nicht zu einfach wird, auch aus ihren persönlichen Interessen, eine individuelle Wertehierarchie, auf die sie zugreifen kann, wenn es um Entscheidungsfindung geht.
Alla Domokos - Underground

Ich hoffe, Sie haben sich nicht verunsichern lassen. In der Praxis ist alles viel einfacher, auch wenn Gutgläubigkeit keine Lösung ist. Falls Sie Schwierigkeiten damit haben, Ihre eigene Wertepyramide zu erstellen, machen Sie sich nichts draus. Sie sind nicht alleine.
Schließen wir den Bogen und kommen zurück zum Verhältnis von Kunst und Wahrheit. Ein Künstler, der seine Vision gestaltet, braucht nicht zu lügen. Er muss sich seinen Status nicht über einen Titel sichern. Warum auch? Er muss auch seinen Marktanteil nicht sichern. Es sei denn, er hat seine Kunst verkauft.

Überarbeitet am 20.2.2011, erstellt am 10.6.2007


 Literatur: 
Karcher, Eva (2007) Willkommen in der Wüste des Realen. In: Süddeutsche Zeitung, 9./10. Juni 2007. www.bundeskunsthalle.de/veranstaltungen/2007/fo/luepertz_filmscript.pdf 
Schimmeck, Tom: Am besten nichts Neues. Medien, Macht und Meinungsmache. 2. Aufl. 2010, Frankfurt: Westend Verlag.

Keine Kommentare:

 
blogoscoop