2006/08/20

Rüdiger Safranski: Nietzsche. Biographie seines Denkens

Rüdiger Safranskis Theorie über Friedrich Nietzsche gibt tief zu denken!

"Die wahre Welt ist Musik. Musik ist das Ungeheure. Hört man sie, gehört man zum Sein." (Safranski, 2005, 9)

Friedrich Nietzsche entwickelte sein apollinisches und sein dionysisches Prinzip und entfaltete daraus die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik.

Safranski zeigt, dass Nietzsche den Ausdruck dionysisch für das Barbarische vorzivilisierter Gewalt- und Sexualexsesse verwendete,aber auch für die Bezeichnung der absoluten Wirklichkeit. (vgl. Safranski, 2005, 72f.) Das Dionysische wird zum Schlüsselbegriff für diesen Philosophen.

In der dialektischen Entfaltung aus dem Dionysischen und dem Apollinischen entwirft Nietzsche demnach seine einflußschwangere Philosophie.

Orientiert am philologischen Weltbild seiner Zeit, zählt Friedrich Nietzsche Kunst, Religion und Wissen zu den apollinischen Formen. Nietzsche generiert die Theorie einer dominanten dionysischen Wirklichkeit; apollinische Formen dienen der Abwehr der Erkenntnis einer erschreckenden Realität. (vgl. Safranski, 2005, 75). Später wird Sigmund Freud dieses Material verwenden, um seine psychoanalytischen Theorien zu konstruieren: strukturelle Theorie (Ich - Es - Über-Ich), Triebtheorie ...

Auch Freud's 'Selbsttherapie' findet offenbar ihr Vorbild in seiner Philosophie.

Sofranski weist aber auch darauf hin, dass Nietzsche das apollinische Prinzip in enge Verbindung mit der Wissenschaft gebracht hat (die apollinische Klarheit des Sokrates), vgl. etwa Safranski, 2005, 58.

Zum Verhältnis des Apollinischen zum Dionysischen positionierte sich Friedrich Nietzsche recht klar. Der brilliante junge Nietzsche habe beste Aussichten auf eine glänzende universitäre Karriere gehabt, doch sei diese von den Auswirkungen der Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik vorzeitig beendet worden. Doch in Nietzsches Philosophie sollte sich die Spannung zwischen Kunst und Wissenschaft entfalten.

Die Psychoanalyse folgte ihm weit über 100 Jahre und die Welt Kunst scheidet sich nach Nietzsche prägnanter von der Welt der Wissenschaft. Der Begriff der Kunst lässt sich nicht mehr unter dem der Wissenschaft subsumieren.

These: Nietzsche stellte die Kunst über die Wissenschaft, denn ihn faszinierte das Dyonisische als das triebhaft berauschte und ekstatische Leben, das ihm weit weniger verblendet erschien, als das, was er mit dem Apollinischen identifizierte: eine kleingeistige Wissenschaft, die sich hinter Begriffen versteckt, mit denen sie sich selbst abschneidet von dem, was sie eigentlich verstehen möchte. So verstellt das bloss systematisch ordnende Denken die Erkenntnis der eigene Verstrickung.

"Es darf von jedem Fundamente aller Existenz, von dem dionysischen Untergrunde der Welt, genau nur soviel dem menschlichen Individuum in's Bewusstsein treten, als von jener apollinischer Verklärungskraft überwunden werden kann" (Safranski, 2005, 75). Hier wird Friedrich Nietzsche auch noch zum Vorbild der psychoanalytischen Sublimationstheorie.

Nietzsche entschied sich für Philosophie und Kunst und gegen eine überkommene Wissenschaft. Gegen eine langweilige Wissenschaft stellte er eine fröhliche Wissenschaft, "nur als ä s t h e t i s c h e s Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig g e r e c h t f e r t i g t" (Nietzsche, zitiert in Safranski 2005, S. 66).

Rüdiger Safranski wirft einen Blick auf Nietzsches Verhältnis zu Kultur und Staat. So habe Nietzsche die Kultur über den Staat gesetzt und damit zugleich über die sich seinerzeit gerade anbahnenden neuen demokratischen Werte. Das Problem der Wertsetzungen wird ins Bewusstsein gerückt. Safranski zeigt bedenkliche Wertsetzungen auf:

So brauche jede höhere Kultur eine ausbeutbare, arbeitende Menschenklasse, einen Sklavenstand und (vgl. Safranski, 2005, 64) die Gesellschaft brauche "fleißige Hände, die für eine privilegierte Klasse arbeiten und dieser erlauben, eine neue Welt der Bedürfnisse zu erzeugen und zu befriedigen" (Safranski, 2005, 67). Nietzsche befürchtete die Verflachung der Kultur durch die gänzliche Vergutmüthigung des demokratischen Herdenthiers (vgl. Safranski, 2005, 67). Nietzsche präsentiert hier schon sehr faul anmutende Früchte einer überkommenen intellektuellen Denkart.

Die Biographie beleuchtet mit einer ausgeprägten musikorientierten Perspektive das Werk Friedrich Nietzsches, deren Vertiefung vielleicht auch zu konstruktiveren Ergebnissen führen könnte als bislang.

Quelle:
Safranski, Rüdiger (2005) Nietzsche. Biographie seines Denkens. 3. Aufl. (2000) Frankfurt: Fischer.
Sloterdijk, Peter (1983) Kritik der zynischen Vernunft. Bd. 1 und Bd. 2FRankfurt: Suhrkamp.

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