2006/06/15

Aktuelle Hirnforschung und Musiktherapie mit älteren Menschen

Der Wissenschaftsjournalist Jörg Blech publiziert derzeit im SPIEGEL wiederholt Forschungsergebnisse aus der Hirnforschung. Unser Gehirn entwickelt ständig neue Gehirnzellen. Diese Erkenntnis wird heute von fortschrittlichen Hirnforschern vertreten. "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr" gilt nun mehr den Pessimisten.

Jörg Blech bezieht sich auf Forscher wie:

- Jeffrey Macklis (Center for Nervous System Repair des Massachusetts General Hospital)
- Elkhonon Goldberg (University of Manhattan)
- Gerd Kempermann (Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin)
- Fred Gage (Salk Institute for Biological Studies in La Jolla, Californien)
- Joseph Altman (Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge)
- Michael Kaplan( University in New Mexico)
- Fernando Nottebohm (Rockefeller University, Manhattan)

Die Forschungen zur Geruchsverarbeitung von Jeffrey Macklis haben ergeben, dass die Bereitstellung unbekannter Gerüche zur Reifung besonders aktiver Nervenzellen führen, die sich mit anderen Nervenzellen verbinden. (vgl. Blech, 164 f.)

Der klinische Psychologe Goldberg hat ein Trainingsprogramm für die verschiedenen kognitiven Funktionen gegen das Vergessen (Alsheimer) entwickelt. Dieses basiert auf rehabilitativen Maßnahmen für Schlaganfallpatienten und der gezielten Nutzung frisch heranwachsender Nervenzellen. Mit kognitiver Aktivität kann nach Goldberg die Entstehung neuer Nervenzellen gezielt angeregt werden (vgl. Blech, 165)

Mit Kempermann können Therapeuten davon ausgehen, dass die Netzwerkarchitektur bereits mit wenigen neugebildeten Zellen grundlegend verändert werden könnte.
Die am 'Lebenslangen Lernen' orientierten Therapeuten und Pädagogen werden bestätigt:

"Die Neubildung der Nervenzellen, wissenschaftlich Neurogenese genannt, hält bis ins Greisenalter an und scheint unentbehrlich für das normale Funktionieren des Denkorgans." (Blech, 2006, 165)

Benannt werden die prophylaktische Möglichkeiten gegen vorzeitigen geistigen Abbau:

1. Lernreize und geistige Herausforderungen

2. körperliche Betätigung

3. soziale Aktivitäten

Damit die neu wachsenden Gehirnzellen jedoch nicht ungenutzt zugrunde gehen, benötigt das Gehirn neue Anreize. Dies bedeutet, dass auch ältere Menschen nicht nur hinzulernen können, sondern auch entsprechend gefordert werden sollten. Wer ältere Menschen als nicht mehr lernfähig einschätzt und entsprechen behandelt begünstigt Abbauprozesse statt den Menschen zu fördern.

Die neu wachsenden Gehirnzellen können zusammenhängend mit den drei Gedächtnistypen betrachtet werden:

Ultrakurzzeitgedächtnis - Kurzzeitgedächtnis - Langzeitgedächtnis

"Die erstaunliche Wandlungsfähigkeit des Gehirns, in der Fachsprache Plastizität genannt, geht auf mindestens drei verschiedene Mechanismen zurück: Zum einen können sich binnen Sekunden die vorhandenen Synapsen zwischen den Neuronen verstärken ... Überdies aber können - meist im Verlauf von Stunden - neue Synapsen sprießen. Das Netzwerk der Nerven verschaltet sich also ständig aufs Neue ..." (Blech, 2006, 169)

Jörg Blech gibt sich überzeugt: "Mit der Neurogenese schließlich kommt nun ein weiterer Mechanismus hinzu, der viele Tage dauert und das Gehirn womöglich besonders nachhaltig verändert." (Blech, 2006, 169)

Hierzu hebt der Wissenschaftsjournalist hebt hervor:

"Auch Untersuchungen auf molekularer Ebene weisen darauf hin, dass der Neurogenese eine Schlüsselfunktion für das Lernen zukommt. So fanden Forscher vom Physiologischen Institut der Universität Freiburg heraus: Neue Nervenzellen sind leichter zu erregen als alte, und sie können ihre Synapsen zu umliegenden Neuronen schneller abschwächen und verstärken ..." (Blech, 2006, 169)

In der wissenschaftsorientierten Musiktherapie gilt es aktuelle Forschungsergebnisse zu berücksichtigten damit bessere Behandlungkonzepte entwickelt werden können.

Die Forschungsergebnisse bestätigen die therapeutische und pädagogische RIM-Konzeption. Hier steht R für ressourcenorientiert, I für integrativ und M für multimodal.

Auf das Lernen hat gerade die ressourcenorientierte Musiktherapie immer schon sehr stark gesetzt. Jedoch wird gerade das Potential und die Lernfähigkeit alter Menschen sehr oft unterschätzt. Doch auch hier gilt: Wer systematisch unterfordert wird, wird nicht mehr gefördert.

Für eine qualitativ hochwertige Förderung älterer Menschen sind die aufgeführten Forschungsergebnisse zu beachten. Dies bedeutet nicht, dass Unmögliches von alten Menschen verlangt werden sollte. Jedoch sollten die vorhandenen Ressourcen erkannt und genutzt werden. Qualitativ hochwertige altenpflegerische, pädagogische oder therapeutische Dienstleistungen müssen an dieser erkannten Lernfähigkeit im Alter anknüpfen. Eine systematische Unterforderung wurde auch vor diesen Forschungsergebnissen von fachlich versierten Kräften kritisiert. Jedoch kann die aktivierende Behandlung mit den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen weit besser begründet und damit auch durchgesetzt werden!

Auch wenn die Ziele infolge einer stark herabgesetzter Leistungsfähigkeit niedriger gesetzt werden müssen, gilt dasselbe Prinzip. Selbst wenn das Ziel primär darin besteht, die vorhandenen Fähigkeiten zu erhalten und die Geschwindigkeit des Abbaus zu vermindern, sollte beachtet werden, dass der Einsatz neuer Impulse und ungewohnte Reize im Umgang mit dem Klienten durchaus noch Sinn machen kann, denn die Lernfähigkeit - auch wenn sie schon stark herabgesetzt ist - endet erst, wenn das Leben beendet ist.

Leider dauert es in der Praxis oft sehr lange, bis alte Paradigmen überwunden werden. Es bleibt zu hoffen, dass in Zukunft in vielen Altenheimen stärker und besser auf eine aktivierende Pflege gesetzt wird und dass die Versorgung alter Menschen weit weniger darin bestehen wird, in Warteraumatmosphären über Stunden hinweg mit Berieselungsmusik eingelullt zu werden.

Es ist meiner Auffassung nach nicht nur die Arbeitsüberlastung, sondern oft auch Unwissen und eine zu pessimistische Haltung der Betreuenden, die eine reizlose Vernachlässigung alter Menschen begünstigen. Und ich bin überzeugt, dass gerade in solchen Fällen Aufklärung einiges zu bewirken vermag.

Pädagogen undTherapeuten die mit musikalischen Angeboten in Altenheimen und Krankenhäusern arbeiten, können häufig von einer sehr zufriedenstellenden Arbeit berichten. Dies liegt daran, dass diese Angebote gerne angenommen werden.

Die Arbeit mit Musik ermöglicht Angebote mit fein abgestuften Schwierigkeitsgraden, die auf die jeweilige Leistungsfähigkeit und auf die erhaltenen Fähigkeiten angepasst werden kann. Eine gute Anpassung an die vorhandenen Ressourcen verbessert die Compliance, also die Bereitschaft das musikalische Angebot anzunehmen und mitzumachen. So wundert es nicht, dass gerade die Musiktherapie zu den beliebten aktivierenden Therapien gehören und das gute musikpädagogische Angebote gerne angenommen und gut genutzt werden.

Schon die Möglichkeiten der rezeptiven Musiktherapie sollten nicht unterschätzt werden, wissen wir doch von Manfred Spitzer, welche komplexen Leistungen das Gehirn bereits beim Musikhören zu vollbringen hat. Es gibt unterschiedliche Arten Musik zu hören. Musikpädagoge und Musiktherapeuten bringen das Wissen mit. Sie können nicht nur dazu anregen Musik auf differenzierte Arten und Weisen zu hören, sondern auch dazu anleiten. In einem Gruppensetting kann auf erweiterte pädagogische/therapeutische Möglichkeiten zugegriffen werden, denn hier können gruppendynamische Aspekte genutzt werden und die wichtigen sozialen und -kommunikativen Anforderungen in gezielten Förderprogrammen realisiert werden.

Mit Musikpädagogik/Musiktherapie lassen sich die drei prophylaktischen Möglichkeiten gegen den geistig-körperlichen Abbau (siehe oben) in verhältnismässig leicht zu entwickelnden Programmen angehen.

Im Sinne des Punkt 3 (soziale Aktivität) - und nicht nur aus Kostengründen! empfiehlt sich die Arbeit in der Gruppe.

Mit Musik können Menschen sehr leicht bewegt werden. Denken Sie allein an das unwillkürliche Mitwippen ... (Punkt 2: körperliche Bewegung)

Im Sinne des Punkt 1 (Lernreize und geistige Anregung) bietet das umfangreiche kulturelle Gebiet manigfaltige Möglichkeiten auf allen wichtigen Ebenen.

- Hinsichtlich der kognitiven Ebene sei auf die Verbindung von Mathematik, Philosophie und Musik hin gewiesen.

- Hinsichtlich der emotional-gefühlsmässigen Ebene sei auf die Melodie hingewiesen.

- Bezüglich der körperliche Ebene bieten sich beispielsweise die Möglichkeiten der Arbeit mit Rhythmus an.

- Mit zunehmend tiefen Frequenzen gehen auditive Reize zunehmend in vibratorische Reize taktiler Art über, d.h. sensorische Reize können auf eine weiteren Sinneskanal stimulieren ...

Die aktive Musiktherapie bietet weitere therapeutisch/pädagogische Möglichkeiten, Möglichkeiten des Lernens, Umgang mit Neuem, ... Depressiv gefärbten Statements wie etwa: "Ich habe schon alles Erlebt!" kann gerade bei der Arbeit mit Musik und Bewegung leicht begegnet werden und zwar auf einer konkreten, direkt wahrnehmbaren sinnlichen Art und Weise.

Auch der integrative Aspekt (I), der in der RIM-Konzeption eng mit dem multimodalen Aspekt (M) zusammenhängt, wird nachvollziehbarer und verständlicher, wenn die Reizverarbeitung im Gehirn hinreichend beachtet wird. Musiktherapie und Musikpädagogik sind im hohen Maße multimodal, wobei unter dem multimodalen Aspekt die gezielte pädagogische bzw. therapeutische Nutzung der Sinnesmodalitäten zu bedenken ist.

Die von Jörg Blech aufgeführten Erkenntnisse der aktuelle Gehirnforschung verweisen regelrecht auf die Notwendigkeit ressourcenorientierten Arbeit. Ob pädagogisch, therapeutisch oder als 'nachträgliche Pädagogik': eine ressourcenorientierte Arbeit sollte, wie Professor Karl Hörmann von der Universität Münster und der Deutschen Sporthochschule in Köln betont, die Handlungsaktivierung nicht vernachlässigen. Und dies gilt auch bei alten Menschen.

Quelle:

Blech, Jörg (2006) Hirn, kuriere dich selbst! In: DER SPIEGEL, Nr.20, 15.5.2006, S. 164-178

Hörmann, Karl (2004) Musik in der Heilkunde. Münster: Paroli.

Fierus, Gerd (2004) Künstlerische Therapien in der Psychiatrie. Unveröffentlichte Diplomarbeit. Zu erhalten über das Musiklabor-Netzwerk, e-mail: GerdFierus@aol.com

5 Kommentare:

Norbert Molitor hat gesagt…

http://de.wikiquote.org/wiki/Lernen

Musiklabor-Netzwerk hat gesagt…

Von den 44 Zitaten im link oben gefallen mir die drei am besten:

"Das Lernen ist wie ein Meer ohne Ufer." - Konfuzius

"Denken ohne zu lernen ist töricht, Lernen ohne zu denken ist gefährlich." - Laotse

"Lernen ist wie Rudern gegen den Strom. Sobald man aufhört, treibt man zurück." - Benjamin Britten

Anonym hat gesagt…

Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst...

Anonym hat gesagt…

melodisch gedacht?

Anonym hat gesagt…

JAWOLL !!!!!!

 
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