2006/03/05

Der Atem in Musik und Therapie

Mit dem Atem in der Musik befasst sich Wolfgang Rüdiger in seinem hier sehr empfohlenen Buch. Dabei geht es um die musikalische Ausdrucksgestaltung. Obschon der enge Zusammenhang zwischen Atem und Energie kaum bestritten wird, setzt sich in der künstlerischen Literatur kaum jemand mit dem ausbaufähigen Potential auseinander.

Das was uns sehr nah ist, wird oft am wenigsten beachtet. Am ehesten lässt sich wohl medizinisch anmutendes Material finden. In verschiedenen Yoga-Schulen lassen sich bereits sehr unterschiedliche Konzeptionen des Atmens finden. Nach Feldenkrais führt ein handlungsferner kognitive Zugang zu den psychophysischen Funktionen kaum zu etwas.  Denken ohne Handeln war für Moshe Feldenkrais sinnlos und ohne Wert. Üben. Wer übt, kommt weiter. Auch Wolfgang Rüdiger stellt Übungen vor,  Atemübungen, und er informiert über Methoden der Körpererfahrung.

Eine Auseinandersetzung mit dem Atem ist für jegliche Artikulation bedeutsam, eben nicht nur für Sänger und Blasinstrumentalisten bedeutsam. In der Bewegungsbeobachtung der Rhythmisch-Energetischen Strukturanalyse wird die Atmung daher sehr genau beobachtet. Doch nur wenige sind in der RES-Analyse (entwickelt von Karl Hörmann)  wirklich gut geschult. Für Schauspieler und Sprecher bietet Kristin Linklater in 'Befreiung der Stimme'  methodische Übungen, mit denen gelernt werden kann die eigene Atmung zu verbessern. Auch nach der RIM-Konzeption ist die körperorientierte Auseinandersetzung mit der Atmung, die als wichtige Schnittstelle im multimodal fungierenden Nervensystem angesehen wird, notwendig und unausweichlich.

Bekanntlich wirken sich funktionale Abläufe unmittelbar auf die Dynamik der menschlichen Atmung aus. Motorische und emotionale Spannungen sind eng miteinander verbunden. Selbst kognitive Wahrnehmungsprozesse beeinflussen den Atem in seiner Frequenz und Tiefe. Obschon das eigentlich sehr leicht nachvollziehbar sein müsste, wird im westlichen Kulturkreis oft bereits das Interesse für Atmung mit dem Interesse für Esoterik gleichgesetzt. Jede vorschnelle Abwehr begünstigt die Vermeidung des Themas und verhindert dadurch eine ernsthafte Auseinandersetzung. Daher wundert es wenig, wenn körperliche Prozesse der Spannungsregulierung im Kontext von Anspannung und Angst kaum beachtet werden. Dass Spannung und Anspannung evident mit der Atmung verbunden sind, wird dann einfach ignoriert. Der Griff zum Medikament erscheint dagegen einfacher und rationaler. So einfach wendet sich die Irrationalität.

Eine multimodal ansetzende Therapie nutzt dagegen das Wissen aus unterschiedlichen Disziplinen über die Atmung. Die Fähigkeit zu atmen kann als Ressource genutzt und ausgebaut und verbessert werden.
Die Arbeit am Atem ermöglicht einen niederschwelligen Einstieg. Sie eignet sich auch für  Menschen mit vermindertem Selbstbewusstsein. Denn atmen kann jeder, der ohne Beatmungsmaschine lebt.

Wird an der Atmung gearbeitet, kann das explizit formuliert werden oder nicht, ähnlich wie beispielsweise ein Läufer sich beim Laufen nicht permanent auf seine Atmung konzentriert, obschon er bei dieser Tätigkeit immer auch atmet. Für eine das RIM-Konzept beachtende Arbeit hat das Wissen um das Atmen einen besonderen Stellenwert. Alle diesbezüglichen Forschungsergebnisse sind interessant. Sie stellen die Grundlagen für die Entwicklung spezifischer Verfahren, die bei der Arbeit unter Beachtung des Atems entwickelt werden, um geeignete Bewegungsaufgaben für die konkreten Klienten zu entwickeln.

Im Gegensatz zur Gesprächstherapie wird der Bereich des bloßen Sprechens durch die körperorientierten Therapien in entscheidender Weise erweitert.

Wer mit seiner Therapie am Ende ist, als Therapeut keine dankbaren Fortschritte mehr erzielen kann, bestimmte Teufelskreise nicht durchbricht (Denken ohne Handeln,  Reden ohne Tun, ausweglosem Grübeln oder anderen Spielarten des dysfunktionalen Denkens nachhaltig gehuldigt werden), sollte prüfen, ob nicht körperorientierte und handlungsaktivierende Methoden eingesetzt werden könnten.

Körperorientierten Methoden setzten an bereits vorhandene Ressourcen an. Atmen kann jeder, der nicht gerade beatmet werden muss. Bewegen kann sich jeder, der atmet. Auch bei depressiven und resignierten Klienten lassen sich Fähigkeiten und Kompetenzen finden, an denen mit körperorientierter Arbeit leicht angeknüpft werden kann. Üben, üben, üben. Wiederholen, wiederholen, wiederholen. Modifizieren, modifizieren, modifizieren. Nach Marshall McLuhan ist die Technik des Erfindens bereits sehr gut untersucht worden, so dass das Erfinden selbst daher bereits banal geworden ist.

Nonverbale Methoden greifen auch bei selbstdestruktiven Denk- und Redegewohnheiten, mangelnder Reflexionsfähigkeit, eingeschränkten sprachlich-kommunikativen Fähigkeiten, denn es wimmelt von Fähigkeiten und Ressourcen, wenn die Wahrnehmung dafür erst einmal offen ist. Durch den Ausbau von Fähigkeiten und Kompetenzen kann Compliance wie Motivation des Klienten erhöht werden, also die Bereitschaft zur Mitarbeit in der Therapie verbessert werden. Dabei können einfache Feedback-Schleifen dazu genutzt werden, den Klienten dabei zu unterstützen, dass sie lernen, ihre eigenen Fortschritte im therapeutischen Prozess besser zu fokussieren.
Wenn ein gebrochener oder resignierter Mensch dazu befähigt werden kann, eigene Erfolgserlebnisses frühzeitig zu erkennen und wenn mit einem individuell zugeschnittenem Übungsprogramm eine Vielzahl von Erfolgserlebnissen realisiert werden kann, lässt sich ein therapeutischer Fortschritt kaum vermeiden. Ressourcenorientierung und Wechsel der Perspektiven:  Ist das Angebot nicht adäquat, ist für mangelnde Compliance nicht mehr der Klient verantwortlich.

Nicht nur gute psychiatrische Kliniken bieten heute Angebote aus dem Bereich der künstlerischen Therapie. Musiktherapie, Tanztherapie, Kunsttherapie. Die multimodale Verknüpfung von kreativer künstlerischer Bewegungsangebote gehört heute zum Standard qualifizierter therapeutischer Praxis.

Wenn Schauspielern oder Musikern ausgebildet werden, geht es darum, dass Spektrum der emotionalen Möglichkeiten und die Fähigkeit zur emotionalen Modulation zu erweitern, damit letztlich eine Annäherung an einen möglichst authentischen schauspielerischen Ausdrucks realisiert werden kann. Dialektisch kann sich auch hier schnell die psychosomatische Frage stellen: Bin ich niedergeschlagen und traurig, weil ich das Kinn senke oder senke ich das Kinn, weil ich traurig bin?
Die Wirkung eines künstlerischen Vortrags, einer Bühnenshow, wird in der Regel nicht durch eine wissenschaftliche Untersuchung nachgewiesen, sondern eher durch gut besuchte oder gar ausverkaufte Karten. Die emotionale Wirkung auf das Publikum kann bei der Aufführung unmittelbar erkannt werden, es bedarf hierzu in der Regel keiner wissenschaftlichen Untersuchung.
Wenn der ganze Saal bei einer spannenden Stelle den Atem anhält, so dass man 'eine Nadel fallen hören könnte'.  Jeder kann sehen, ob die Tränen im Publikum rollen, jeder kann hören, ob an der richtigen Stelle gelacht wird. Jeder kann riechen, welche Geruchsstoffe das Publikum während der Vorstellung produziert. Doch wer seine eigenen Sinneswahrnehmungen ausblendet oder gar verlernt hat ihnen zu trauen, ist wahrscheinlich ein leichtes Opfer für so manche Manipulation.
Von den Ausbildern von Schauspielern und Sängern kann mehr gelernt werden, als gemeinhin angenommen. Über ausdrucksvolle Gestik, Mimik und gesprochener Sprache können multimodale Erfahrungen auch ohne wissenschaftlichen Nachweis über viele Jahre angesammelt und in praxisrelevantes Wissen weitergegeben worden sein. Solches ist in die methodische Arbeit der Ausbildungseinrichtungen eingeflossen. Wissen und Erfahrung sind in einer guten Schauspielschule in hohem Maße schon integriert.

Der angehende Schauspieler lernt Gestik, Haltung, Bewegung und seinen stimmlichen Ausdruck einsetzen, emotionale Veränderung zu realisieren. Viele Ziele können auf unterschiedliche Wege erreicht werden. Etwa mittels innerer Vorstellungskraft, über Imagination die eigene emotionale Befindlichkeit zu verändern, so dass eine überzeugende Rolle gespielt werden kann. Inwieweit die Befindlichkeit einer Situation tatsächlich vom Schauspieler oder vom musizierenden Interpreten übernommen werden muss, kann zwar diskutiert werden, doch wäre jede Distanz zum Vortrag für sensible Empfänger potentiell spürbar.
 
Das Spektrum der Kompetenzen und Fähigkeiten von Schauspielern und Opernsängers unterscheiden sich von den entsprechenden Spektren von Internisten, Neurologen, Psychiatern oder Psychologen.
Neben den typischen Unterschieden, lassen sich überschneidende Fähigkeiten finden. Kooperation und multidisziplinäre Teamarbeit erweitern die Fähigkeiten und Kompetenzen eines Teams, zu dem heute oft auch gut ausgebildete künstlerische Therapeuten gehören. Aus ressourcenorientierter Perspektive bieten körperorientierte künstlerische Therapeuten eine sinnvolle und notwendige Ergänzung zur Fähigkeitsoptimierung in einem qualifizierten multidisziplinären psychiatrischen Team.

Für die künstlerischen Therapien bietet sich die Rhythmisch-Energetische-Strukturanalyse (RES-Analyse) an (Hörmann, Karl 1993, 2000, 2004). Auf Grundlage multimodaler Diagnostik strebt Hörmann über Erlebnis- und Wahrnehmungsvertiefung die Handlungsaktivierung an. Die Hörmann'sche Musiktherapie orientiert sich an Kunst & Wissenschaft und erfolgte in der staatlich anerkannten Ausbildung konsequent multidisziplinär. In der musiktherapeutischen Ausbildung studieren Spezialisten aus den Gesundheitsberufen (Ärzte Sozialpädagogen und -arbeiter, Erzieher, etc.) und den künstlerischen Berufen (Tänzer, Instrumentalisten, Sänger, Komponisten, etc.) zusammen. Etwa 1/3 der musiktherapeutischen Ausbildungseinheiten erfolgen gemeinsam mit Studenten der Tanztherapie, wodurch eine gemeinsame Ausbildungsarbeit von Musikern und Tänzern befördert wird und multidisziplinäre Konzeptionen erarbeitet, erprobt und realisiert werden können.
Musiktherapeutische und manualorientierte (ICD-10 etc.) Diagnostik, individuelle Therapieziele, Einübung ressourcenorientierter therapeutischer Strategien, Wiederholung. Die Erarbeitung von  Therapiezielen orientiert sich auf die Verbesserung von Fähigkeiten und Kompetenzen, die zur Bewältigung individueller Problemlagen benötigt werden. In der auch als nachträgliche Pädagogik zu betrachtenden Therapie gilt es Fähigkeiten zu verbessern und Kompetenzen aufzubauen, die dem Klienten dabei helfen sein Leben (wieder) besser zu bewältigen. Gelernt wird neues, vorteilhafteres Verhalten, eingeübt werden entsprechende Routinen, unterschiedliche Sinne werden berücksichtigt, dabei gezielt geschult und integriert.

Was sich hier in der schriftlichen Formulierung womöglich noch komliziert anhört, kann in der therapeutischen Praxis oft durch einfachste Übungen und Aufgabenstellungen realisiert werden.
Wichtig ist bei der klientenzentrierten Konstruktion der therapeutischen Aufgaben, dass die Anforderungen den konkreten Klienten weder unter- noch überfordern.

Der Autor Wolfgang Rüdiger bietet mit seiner Untersuchung zum Atem in der Kunst einen wertvollen Beitrag für die körperorientierten Therapien und ist vor allem für den künstlerisch-musikalisch interessierten Leser sehr interessant.

Rüdiger bezieht in verständlicher Sprache Informationen aus unterschiedlichen Disziplinen mit ein:

"Auch die Unterscheidung von Länge, Tiefe und Frequenz der Atembewegungen, die so individuell sind, wie Stimme und Körpersprache der Menschen, ist ein musikalischer Aspekt. Beträgt die normale Atemfrequenz eines Neugeborenen ca. 40 Atemzüge pro Minute, so sind es beim Erwachsenen 16-20 Atemzüge, wobei von der Geburt bis zum Tod die Atemfrequenz etlichen körperlich-seelischen Einflüssen, Lebenserfahrungen und Umweltbedingungen ausgesetzt ist. Bei körperlicher Anstrengung steigt sie auf ca. 30 Atemzüge, bei tiefer Entspannung, z.B. im Schlaf, sinkt sie. Und in den östlich-esoterischen Atemschulen gilt es als höchstes Ziel, mit weniger als einem Viertel dieser Zahl auszukommen, d.h. mit ca. 3 bis 4 Atemzügen pro Minute. …Die stark verlangsamte, gegenüber der Einatmung verdoppelte Ausatmung ist sowohl musikalisch als auch therapeutisch motiviert: Sie entspannt den Körper und beruhigt die Seele, sie erhöht die Konzentration und zentriert die Aufmerksamkeit auf die Leibesmitte, sie erlaubt phrasenökonomisches Atmen beim Musizieren und fördert die Leichtigkeit des Singens und Spielens.“ (Rüdiger, 1999, 117 f.)

„Eine fundamentale Strukturverwandtschaft zwischen Atem und Musik aber besteht darin, dass beide sich unbewusst und bewusst zugleich vollziehen können …Der Atem als Funktion des vegetarischen Nervensystems und seine Repräsentation in der Großhirnrinde, die die Bahnen zu willkürlich-motorischen Steuerung öffnet, können auf dem Weg der Körper- und Ausdrucksschulung kinästhetisch sinnvoll kombiniert und positiv genutzt werden – wie alle musikalischen Bewegungen, die, einmal gelernt und verankert, automatisch ablaufen, jedoch jederzeit der Kontrolle und ’’Bewußtheit’’ zugänglich sind.“ (Rüdiger, 1999, 119)

Literatur:

Hörmann, Karl (2004) Musik in der Heilkunde. Künstlerische Musiktherapie als angewandte Musikpsychologie. Münster: Paroli.

Linklater, Kristin (1997 ) Die persönliche Stimme entwickeln. Ein ganzheitliches Programm zur Befreiung der Stimme. München: Ernst Reinhardt Verlag.

Rüdiger, Wolfgang (1999) Der musikalische Atem. Atemschulung und Ausdrucksgestaltung in der Musik. 2. Auflage (1995), Aarau: Musikedition Nepomuk.

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