2006/02/15

Ästhetik und die ’Politik der Rache’ aus therapeutischer Perspektive

Ein ressourcenorientierter Blick nimmt das eigene kulturelle Erbe in Besitz. So kann etwa der ’kategorische Imperativ’ von Immanuel Kant als geronnene Philosophie im realisierten Deutschen Grundgesetz herausgearbeitet werden.

Die Philosophie der Aufklärung hat sich über Jahrhunderte hinweg entwickelt und wir verfügen heute über eine breit ausdifferenzierte Wissenschaft, die an Universitäten und Hochschulen in wissenschaftlichen Disziplinen ihren zeitgemäßen Ausdruck kreiert: Philosophie, Politologie, Ethik, Soziologie, Erziehungswissenschaft, Musikwissenschaft, um nur einige zu nennen.

Auch der Einfluss von Goethe und Schiller auf die Moderne ist nicht zu unterschätzen. So können akzentuierte Linien von der modernen Journalistik bis zurück auf die ästhetisch-kritische Zeitschrift ’Die Horen’ gezogen werden. Doch reicht hier ein kurzer Blick auf Schillers pädagogisch motivierte Ästhetik:

„ … über das Schöne und die Kunst … Ich werde von einem Gegenstande sprechen, der mit dem beßten Theil unsrer Glückseligkeit in einer unmittelbaren, und mit dem moralischen Adel der menschlichen Natur in keiner sehr entfernten Verbindung steht." (Schiller, 2000, 7)

„ … denn leider muß der Verstand das Objekt des innern Sinns erst zerstören, wenn er es sich zu eigen machen will. Wie der Scheidekünstler so findet auch der Philosoph nur durch Auflösung die Verbindung, und nur durch die Marter der Kunst das Werk der freywilligen Natur. Um die flüchtige Erscheinung zu haschen, muß er sie in die Fesseln der Regeln schlagen, ihren schönen Körper in Begriffe zerfleischen, und in einem dürftigen Wortgerippe ihren lebendigen Geist aufbewahren.“ (Schiller, 2002, 8)

„ … denn die Schönheit gibt schlechterdings kein einzelnes Resultat weder für den Verstand noch für den Willen, sie führt keinen einzelnen weder intellektuellen, noch moralischen Zweck aus, sie findet keine einzige Wahrheit, hilft uns keine einzige Pflicht erfüllen, und ist, mit einem Worte, gleich ungeschickt, den Charakter zu gründen und den Kopf aufzuklären.“ (Schiller, 2000, 83)

„ … mit dem Angenehmen, mit dem Guten, mit dem Vollkommenen ist es dem Menschen nur ernst, aber mit der Schönheit spielt er.“ (Schiller, 2000, 61)

„Denn um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wenn er spielt.“ (Schiller, 2000, 62f.)

Spätestens seit diesem auch aus politischer Perspektive interessanten Werk von Friedrich Schiller wissen wir um die Bedeutung des Spiels für die psychische Gesundheit.

Wir wissen heute: Im Spiel ist zuviel Ernst nicht angezeigt. Das Spiel stellt ein hervorragendes Übungsfeld zum Umgang mit den eigenen Emotionen.

Wer in der Lage ist, seine Emotionen in angemessener Weise zu regulieren, ist oft einen Schritt weiter gekommen und kann aggresives durch sozial verträglicheres Verhalten ersetzen.

In der aktiven Musiktherapie sind umfangreiche Spielformen entwickelt worden, mit denen sozialverträgliches Verhalten gezielt eingeübt werden kann. Hierzu kann beispielsweise auf die Karteikarten von Fritz Hegi verwiesen werden. Der Musiktherapeut Fritz Hegi arbeitet mit Suchtklienten. Die erhöhte Aggressivität ist, wie bekannt, ein spürbares Thema bei der Arbeit mit Suchtklienten.

Die Auseinandersetzung mit dem ’Schönen’ kann auch als Antithese zur ’Rache’ im Leitartikel der Zeitschrift DER SPIEGEL vom 23.1.2006 betrachtet werden.

Unter dem Titel ’Die Moral der Rache’, urteilen die Spiegelautoren Erich Follath und Gerhard Spörl:

“Für Demokratien ist der Krieg der absolute Ausnahmezustand, gerechtfertigt eigentlich nur, wenn sie angegriffen werden, wenn es um ihre Existenz geht. Und sie werden an sich selbst irre, wenn sie zivile Standards und bürgerliche Rechte herabsetzen …“ (Follath/Spörl, 2006, 112)

Aus soziarbeiterischer wie aus therapeutischer Sicht ist Erich Follath/Gerhard Spörl in zweierlei Hinsicht zuzustimmen:

1) Rache und Gewalt werden auch in der Therapie nicht als Stärke, sondern als Schwäche identifiziert.

2) Rache und Gewalt kann auch nicht als eine reife Konfliktlösungsstrategie eingeordnet werden, sondern nur als eine unreife.

Die moderne Entwicklungspsychologie differenziert verschiedenen Entwicklungsniveaus, welche sich vom Individuum auch auf Gesellschaften übertragen lassen.

Hierzu sei auf das Deutsche Grundgesetz verwiesen. Immerhin kann dieses normative System auf ein recht entwickeltes Niveau eingestuft werden.

In einem entwickelten Normensystem wie dem Deutschen Grundgesetz, findet sich – wohlgemerkt - keinerlei Legitimation, einen Menschen zu töten.

Im Deutschen Grundgesetz existiert der Begriff ’Rache’ nicht.

Womöglich weil Rache so wenig mit Vernunft zu tun hat?

Ein leistungsfähiges System, nehmen wir das menschliche Gehirn, kennzeichnet sich nicht dadurch, dass es keine Fehler macht. Im Gegenteil, Fehler ermöglichen zu lernen.

Wir erachten es als intelligent, wenn derselbe Fehler nicht laufend wiederholt wird. Aus schlechten Erfahrungen kann gelernt werden.

Aus der negativen Erfahrung mit einem totalitären Staat entwickelte sich beispielsweise in Deutschland die Demokratie.

Das demokratische Verhalten ist konträr zum Verhalten von Hitler und dem Aggressorstaat.

Aus dieser Perspektive betrachtet, besitzen wir also bereits unabhängig von fachspezifischen Ausbildungen eine tief verwurzelte aber auch relativ aktuelle Erfahrung mit aggressivem Verhalten, Erfahrung mit Gewalt auf einer kollektiven Ebene. Diese Erfahrungen wurden ausreichend erörtert und diskutiert, heute können wir aus diesen Refelxionen schöpfen!

Doch wechseln wir zur therapeutische Perspektive:

Wenn dem aggressiven Menschen geholfen werden will, gilt es, die Fähigkeiten im Bereich der Konfliktbewältigungsstrategien zu verbessern, so dass im konkreten Handeln des Betroffenen ein erhöhtes Entwicklungsniveau zum Ausdruck kommt.

Um ein etwaig vermindertes Selbstbewusstsein eines Menschen mit der Tendenz zu aggressiven Verhaltensmustern zu stärken, ist es ratsam

a) Methoden zur Angstverminderung zu vermitteln und

b) die Fähigkeit zu einer ressourcenorientierte Sichtweise zu stärken.Über das den Erwerb neuer und verbesserter bereits vorhandener Fähigkeiten kann ein erhöhtes Entwicklungsniveau erreicht werden.

Ein erhöhtes Entwicklungsniveau beinhaltet ein erhöhtes Potential an Fähigkeiten und ermöglicht damit auch den Zugriff auf ausgereiftere Lösungsstrategien, wenn wichtige Entscheidungen durch Krisen- und Konfliktsituationen angefragt werden.

Wir wissen heute, dass es letztlich menschliche Individuen sind, die an der Spitze von Organisationen und Regierungen politisch relevante Entscheidungen zu treffen haben.

Gerade auf den herausragenden Positionen sind hohe zur Verfügung stehende Fähigkeiten gefragt.

Die hier zur Verfügung stehenden Fähigkeiten beeinflussen maßgeblich die Qualität von wichtigen Entscheidungen auf der Leitungsebene.

Die Anforderungen, die an die leitenden Menschen in Führungspositionen gestellt werden, können übertragen werden auf die Menschen in den leitenden Positionen der Regierungen der verschiedenen Länder.

In den westlichen Ländern bekennen wir uns wie bereits aufgezeigt zu einer abendländischen Kulturgeschichte, die sich in hohem Maße an die Wissenschaft orientiert. Gerade in Europa können wir seit der Aufklärung auf eine ausgeprägte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Vernunft und vernünftigem Handeln zurückgreifen.

Auf dem aktuellen Entwicklungsniveau der Wissenschaft finden extreme fundamentalistische Positionen die zu Hass und Gewaltaufrufen in großen Teilen von Europa daher wenig Verständnis.

Wir verfügen heute über wesentlich mehr Wissen und Erfahrungen und über eine akzentuierte Wissenschaftsorientierung, die es im Mittelalter beispielsweise noch nicht gab. Dort erfolgte die politische Steuerung noch viel stärker über Auslegung von Glaubenssätzen und Dogmen.

Wir verfügen inzwischen über fundierte Erfahrungen mit totalitären Staaten und können gerade auch in Deutschland auf eine ausreichend reflektierte Selbsterfahrung zurückgreifen.

Vor diesem kulturellen Hintergrund verweisen die stichhaltigsten Argumente derzeit darauf, Tötungsdelikte und Gewaltdelikte ausschließlich der Kriminalität und/oder dem abweichenden Verhalten (Delinquenz) zuzuordnen.

Quellen:

Friedrich Schiller (2000) Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Stuttgart: Philipp Reclam.

Hegi, Fritz (1997) Improvisation und Musiktherapie. Möglichkeiten und Wirkungen freier Musik. 5. Aufl. Paderborn: Junfermann.

Follath, Erich; Spörl, Gerhard (2006) Das Recht auf Rache. In DER SPIEGEL, Nr.4, 23.01.2006, Hamburg: Spiegel-Verlag, S. 104-114

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