Auf der Suche nach Erkenntnis studiert nach Friedrich Nietzsche jeder Philosoph den ’durchschnittlichen Menschen’. Nietzsche selbst kommt zu dem Fazit: „Wer nicht im Verkehr mit Menschen gelegentlich in allen Farben der Not, grün und grau vor Ekel, Überdruß, Mitgefühl, Verdüsterung, Vereinsamung schillert, der ist gewiß kein Mensch höheren Geschmacks…“ (Nietzsche, 1981,31).
Doch der schlechte Umgang macht nach Nietzsche ein notwendiges Stück der Lebensgeschichte jedes Philosophen aus, denn wer sich nur still und stolz auf seiner Burg versteckt, der „ist zur Erkenntnis nicht gemacht, nicht vorherbestimmt.“ (Nietzsche, 1981,31)
Und so kommt der Philosoph wieder einmal auf den lachenden und selbstgefälligen Satyr zu sprechen. Eine Begegnung mit dem Satyr kann den Erkenntnissuchenden beglücken, wogegen dem Philosophen an einer Begegnung mit dem ’Entrüsteteten’ offenbar sehr viel weniger gelegen ist. Glück habe der Philosoph, wenn er dabei einem Zyniker begegnet (vgl. a.a.O.):
„... ich meine sogenannten Zynikern, also solchen, welche das Tier, die Gemeinheit, die Regel an sich einfach anerkennen … Zynismus ist die einzige Form, in der gemeine Seelen an das streifen, was Redlichkeit ist; und der höhere Mensch hat bei jedem gröberen und feineren Zynismus die Ohren aufzumachen und sich jedes Mal Glück zu wünschen, wenn gerade vor ihm der Possenreißer ohne Scham oder der wissenschaftliche Satyr laut werden. Es gibt sogar Fälle, wo zum Ekel sich die Bezauberung mischt: da nämlich, wo an einen solchen indiskreten Bock oder Affen, durch eine Laune der Natur, das Genie gebunden ist, wie bei dem Abbé Galiani, dem tiefsten, scharfsichtigsten und vielleicht auch schmutzigsten Menschen seines Jahrhunderts – und er war viel tiefer als Voltaire und folglich auch ein gut Teil schweigsamer. Häufiger schon geschieht es, daß, wie angedeutet, der wissenschaftliche Kopf auf einem Affenleib, ein feiner Ausnahme-Verstand auf eine gemeine Seele gesetzt ist, - unter Ärzten und Moral-Physiologen namentlich kein seltenes Vorkommnis. Und wo nur einer ohne Erbitterung, vielmehr harmlos vom Menschen redet als von einem Bauche mit zweierlei Bedürfnissen und einem Kopfe mit einem; überall wo jemand immer nur Hunger, Geschlechts-Begierde und Eitelkeit sieht, sucht und sehn will, als seien es die eigentlichen und einzigen Triebfedern der menschlichen Handlungen; kurz, wo man „schlecht“ vom Menschen redet – und nicht einmal schlimm -, da soll der Liebhaber der Erkenntnis fein und fleißig hinhorchen, er soll seine Ohren überhaupt da haben, wo ohne Entrüstung geredet wird. Denn der entrüstete Mensch, und wer immer mit seinen eignen Zähnen sich selbst (oder, zum Ersatz dafür, die Welt, oder Gott, oder die Gesellschaft) zerreißt und zerfleischt, mag zwar, moralisch gerechnet, höher stehn als der lachende und selbstzufriedne Satyr, in jedem anderen Sinne aber ist er der gewöhnlichere, gleichgültigere, unbelehrendere Fall. Und niemand lügt so viel als der Entrüstete. - (Nietzsche, 1981, 31 f.)
Nietzsches Art zu schreiben ist durch eine eigentümliche dialektische Charakteristik gekennzeichnet, die sich sicher und selbstbewusst im Ausdruck gibt und zielorientiert voranschreitet. In den Texten von Nietzsche gibt es kein Verweilen; insgesamt sind sie durch eine hohe musische Qualität ausgezeichnet. Nicht umsonst hat sich Friedrich Nietzsche gerade in seinen jungen Jahren in einer sehr intensiven Weise mit Musik auseinandergesetzt. Der Stellenwert der Musik war zu Nietzsches Zeiten noch nicht so gesunken, wie es heute offensichtlich der Fall ist.
Die Fähigkeit zur musikalischen, vitalen Ausdrucksweise kann nicht nur als eine immens wichtige menschliche Fähigkeit eingestuft werden, die geschult werden kann, sondern kann auch als Indikator für die Qualität des Schulunterrichts entdeckt werden, der nicht unterschätzt werden sollte. Das ist jedoch offenbar dort noch nicht im Bewußtsein, wo die Frage nach der Qualität der Ausbildung der nachwachsenden Generation gestellt werden muß: In den zuständigen Gremien der Schulbehörden.
Eine heute sehr bedeutsame Methode der Qualitätssicherung besteht darin, relevante Forschungsergebnisse zu berücksichtigen, wenn es um Entscheidungen geht, die eine wissenschaftliche Absicherung bedürfen.
Was hier versäumt wird, hat schwerwiegende Auswirkungen. Was gestern versäumt wurde, muss morgen nicht schon wieder versäumt werden, zumindest nicht, wenn auch nur etwas Engagement vorhanden ist. Einen hohen Stellenwert bei der Bewertung der Qualität der Ausbildung in unserem Schulwesen wurde bislang und wird auch immer noch der PISA-Studie zugeschrieben. Die PISA-Studie trat unter dem Anspruch auf, die Qualität der schulischen Ausbildung länderübergreifend zu überprüfen. In den letzten Jahren hat sich die Bedeutung der PISA-Studie etwas zementiert.
Doch muss heute ernsthaft gefragt werden, ob die Kriterien der PISA-Studie den modernen Anforderungen an eine ernstzunehmende qualitative Forschung, die dem Ziel der Optimierung unseres Bildungssystenms verpflichtet ist, hinreichend genügt.
Wir sind es gewohnt, dass die Entwicklung vorangetrieben wird. Wer diesem Druck nicht standhält, läuft Gefahr, ins Abseits gedrängt zu werden. Auch die PISA-Studie muß sich dem prüfenden Blick der Qualitätssicherung stellen und bleibt von der notwendigen Aktualität notwendiger Verbesserungen nicht verschont.
Nur wenn Schwachstellen erkannt und behoben werden, kann auch ein Forschungsinstrument aktualisiert und den wachsenden Anforderungen adäquat angepasst werden damit es den Anforderungen nach verbesserter Qualität auch zukünftig genügen kann.
Eine nicht unwesentliche Schwachstelle der PISA-Studie besteht nach Auffassung des Musiklabor-Netzwerkes darin, dass die musischen Fächer in der PISA-Studie keine ausreichende Berücksichtigung finden, ihr Stellenwert wird nicht ausreichend gewürdigt. Dies gilt es nachzubessern!
Wer derzeit die PISA-Studie mit der Hoffnung in die Hand nimmt, die Qualität des Musikunterrichts an den Schulen beforscht zu finden, wird von der Studie enttäuscht. Es gilt, diese Schwachstelle der Studie mit allen Anstrengungen ins Bewußtsein zu rufen.
Doch wird womöglich der Stellenwert der musischen Ausbildung nicht nur in der PISA-Studie, sondern generell an den allgemein bildenden Schulen heute derart gering geschätzt, dass Proteste bislang ungehört blieben und in zu geringem Maße diskutiert worden sind.
Das Musiklabor-Netzwerk ist jedoch mit gutem Grund der Auffassung, dass sich das in Zukunft ändern sollte. Immerhin wissen wir aus der Forschung, wie wichtig der Umgang mit Musik zur Ausbildung unseres Nervensystems ist. Das wissen aus der Gehirnforschung, das wissen wir aus der Musiktherapie, das wissen wir aus der Praxis der sozialen Arbeit.
Zu nennen sei hier stellvertretend für viele andere Studien und Forschungsaktivitäten:
- die Langzeitstudie von Günther Bastian an Berliner Grundschulen
Zu nennen sei hier aus der Psychiatrie und Neurologie:
- die von Manfred Spitzer zusammengetragenen Forschungsergebnisse aus der
Gehirnforschung
und die Zeitschrift der Forschungsstelle für Musik- und Tanztherapie:
- Hörmann, K.; Becker-Glauch, W.; Bertolaso, Y.; Hörmann, G.; Klosinski, G.; Schurian, W.;
Zifreund, W. (Hrsg.) Musik-, Tanz- und Kunsttherapie. Im 16. Jahrgang, Münster: Hogrefe.
Wenn wir uns heute um Innovation bemühen, wenn die Verbesserung der Qualität der Ausbildung unserer Jugend in Angriff genommen werden soll, dann ist hierzu auch Mut erforderlich, Mut, der notwendig ist um überkommene eingetretende Pfade zu verlassen und Breschen für die neuen Wege zu schlagen, die notwendig sind. Konkret geht es darum, den unterbewerteten Stellenwert der musischen Fächer mit den erforderlichen Anstrengungen anzuheben. Hierzu ist gemeinsames Handeln gefragt, Nichts-Tun hilft nicht weiter, wenn etwas bewegt werden möchte. So ist die notwendige Arbeit in den zuständigen Gremien gefragt, und was hier zu wenig vorhanden ist, muss angestoßen werden. Dieser Artikel kann dazu nur einen geringen Beitrag leisten. Es gibt noch viel zu tun. Wichtig ist, dieses Anliegen zukünftig verstärkt zu kommunizieren. Immerhin haben wir mit unserer neuen Regierung auch wieder veränderte Chancen. Die Realisierung der notwendigen Innovation stellt sich als Aufgabe, die auch von unserer neuen Regierung ausreichend registriert werden muss: ein Appell nicht nur an Angela Merkel.
Wenn es darum geht, die Qualität unserer Schulen einen entscheidenden Schritt vorwärts zu bringen, bedarf es nicht zuletzt auch neu zu justierende administrative Maßnahmen. Sinnvolle politische Entscheidungen können dabei helfen, das musikalische Leben zu intensivieren und der kulturellen Verödung zu begegnen.
Literatur:
Nietzsche, Friedrich (1981) Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Augsburg: Wilhelm Goldmann Verlag. Bastian, Hans Günther (2000) Musik(erziehung) und ihre Wirkung. Eine Langzeitstudie an Berliner Grundschulen. Mainz: Schott
Spitzer, Manfred (2002) Musik im Kopf. Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk. Stuttgart: Schattauer.
2005/12/17
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