In den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts äußerte sich Nikolaus Harnoncourt, Professor am Mozarteum in Salzburg zu Musikverständnis, Musikerausbildung und Rezeptionsgewohnheiten:
"Wie sieht es heute aus? Der heutige Komponist ist wohl auch ein Musiker im zuletzt geäußerten Sinn. [Gesamt-Musiker und nicht nur Theoretiker oder Praktiker] Er hat das theoretische Wissen, kennt die praktischen Möglichkeiten, was ihm aber fehlt, ist der lebendige Kontakt mit dem Hörer, mit den Menschen, die unbedingt Musik von ihm brauchen." (Harnoncourt, 1982, 24)
"Es fehlt offenbar wirklich der lebendige Bedarf nach ganz neuer, eben für diesen Bedarf gemachter Musik. Der Praktiker, der ausführende Musiker, ist im Prinzip genauso unwissend, wie er es schon vor Jahrhunderten war. Ihn interessiert vor allem die Ausführung, die technische Perfektion, der direkte Beifall oder Erfolg. Er schafft keine Musik, sondern spielt sie nur. Weil aber die Einheit seiner Gegenwart und der Musik, die er spielt, nicht mehr gegeben ist, fehlt ihm das natürliche Wissen über diese Musik, das die praktischen Musiker früherer Zeiten, die ja nur Musik ihrer Zeitgenossen spielten, selbstverständlich hatten." (Harnoncourt, 1982, 24)
"Unser Musikleben befindet sich in einer fatalen Situation: Überall gibt es Opernhäuser, Symphonieorchester, Konzertsäle, ein reiches Angebot für das Publikum. Aber wir spielen dort Musik, die wir gar nicht verstehen, die für Menschen ganz anderer Zeiten bestimmt war; und das merkwürdigste an dieser Situation: Wir wissen gar nichts von diesem Problem, weil wir glauben, da gäbe es nichts zu verstehen, die Musik wende sich ja direkt ans Gemüt. Jeder Musiker strebt nach Schönheit und Emotion, das ist ihm natürlich, das gehört zur Basis seines Ausdrucksvermögens. Das Wissen, das notwendig wäre, weil eben die Einheit von Musik und Zeit nicht mehr gegeben ist, interessiert ihn gar nicht; es kann ihn auch nicht interessieren, weil er den Mangel dieses Wissens nicht kennt. Das Ergebnis: Er stellt nur die rein aesthetische und emotionale Komponente der Musik dar, der übrige Inhalt wird ignoriert.“ (Harnoncourt, 1982, 24 f.)
„Heute, wo die aktuelle Musik die historische Musik ist (man mag dies nun schätzen oder nicht), müßte die Ausbildung der Musiker eine völlig andere sein und auf anderen Grundlagen beruhen. Sie darf sich auf die Dauer nicht darauf beschränken, zu lehren, an welche Stelle des Instruments man seinen Finger legen muß, um einen bestimmten Ton zu erzielen, und eine gewisse Fingerfertigkeit zu erlangen. Eine zu stark technisch ausgerichtete Ausbildung bringt keine Musiker hervor, sondern leere Artisten. Brahms sagte einmal, man müsse ebensoviel Zeit dafür aufwenden, zu lesen wie Klavier zu üben, um ein guter Musiker zu werden. Damit ist eigentlich auch für heute schon alles gesagt." (Haroncourt, 1982, 28 f.)
"Worin besteht die Ausbildung des Hörers? Im Musikunterricht, den er in der Schule hat, und im Konzertleben, an dem er Anteil nimmt. Und selbst jemand, der keinen Musikunterricht hatte und nie ins Konzert geht, wird doch musikalisch ausgebildet, denn es gibt in der westlichen Welt wohl niemanden, der nicht Radio hört. Die Töne, die daraus täglich auf den Hörer einprasseln, bilden ihn musikalisch, indem sie, ohne das er dies selbst bemerkt, den Wert und die Bedeutung der Musik für ihn prägen – es sei nun positiv oder negativ." (Harnoncourt, 1982, 29)
"Noch ein Aspekt, vom Publikum her gesehen: In welche Konzerte gehen wir denn? Doch nur in solche, in denen Musik gespielt wird, die wir kennen. Das ist ein Faktum, das jeder Konzertveranstalter bestätigen kann. Dort, wo das Programm überhaupt eine Rolle spielt, will der Hörer nur das hören, was er schon kennt. Das hat mit unseren Hörgewohnheiten zu tun." (Harnoncourt, 1982, 29)
"Wenn der Ablauf eines musikalischen Werkes in seiner Wirkung auf die Hörer so konzipiert ist, dass der Mensch in seiner ganzen Person durch dieses Werk geführt, ja oft förmlich durchgerissen wird, dann setzt das voraus, daß wir das Werk nicht kennen, es zum ersten Mal hören. Dann kann der Komponist statt unsere Erwartungen zu erfüllen, uns plötzlich einen Schock versetzen, etwa indem er eine normale Kadenz ansetzt und in einen Trugschluß führt; ein Trugschluß, den man schon kennt, trügt nicht, er ist kein Trugschluß mehr. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten dieser Art, und unsere Musik ist darauf aufgebaut, den Hörer durch Überraschungen und Schocks zu dem Verständnis und Erlebnis zu führen, das der Idee des Werkes entspricht. Überraschungen und Schocks bleiben aber heute aus: wenn wir eine klassische Symphonie, die Hunderte von solchen komponierten Schocks enthält, heute hören, so neigen wir uns bereits zwei Takte vor der entsprechenden Stelle interessiert vor, um zu hören, 'wie der das jetzt macht'. Und dabei dürfte – wenn wir es ganz genau nähmen – diese Musik eigentlich gar nicht aufgeführt werden, wenn sie schon so bekannt ist, daß wir weder überrascht oder erschreckt noch verzaubert werden können – außer vielleicht durch das Wie der Aufführung. Für uns kann ein Reiz gar nicht abgebraucht genug sein, denn wir wollen ja gar nicht mehr gepackt und überrascht werden, wir wollen vielmehr nur noch genießen und wissen: Wie macht der das? Es kann eine bekannte 'schöne Stelle' noch schöner oder eine Überdehnung noch mehr überdehnt oder auch einmal nicht mehr so überdehnt erscheinen. In diesen kleinen Vergleichen verschiedener Möglichkeiten erschöpft sich unser Musikhören, womit wir ein lächerlich primitives Stadium erreicht haben." (Harnoncourt, 1982, 30)
Terri Lyne Carrington www.terrilynecarrington.com
In einem aktuellen Interview mit Bertold Möller (DH) eröffnet uns die Schlagzeugerin Terri Lyne Carrington (TLC) bemerkenswerte Einblicke in ihre musikalische Welt, die einiges von dem enthält, was von Harnoncourt offenbar so schmerzlich vermißt wurde:
“TLC: … An dem Punkt, an dem du total im Rhythmus und in den Geschehnissen auf der Bühne aufgehst, gibt es keine Lücke zwischen der Idee und der Ausführung. Das sind Instinkte, die gepflegt und entwickelt werden und die einen Musiker großartig machen oder eben nicht. Wenn jemand das spielt, was er ständig übt, dann kann er ein guter Musiker sein. Aber ich kann nicht sagen, dass er ein großartiger Musiker ist. Der Geist kreativer Musik ist es, das anzunehmen, was exakt in diesem Moment um einen herum passiert und sich davon zu eigenen Handlungen inspirieren zu lassen. Wir reden hier von Inspiration und das ist ein spiritueller Prozess.
DH: Das heißt, du opferst auch ein Stück Perfektion zugunsten von Spontanität?
TLC: Natürlich. Man geht immer ein Risiko ein, wenn man sich so verhält, wie ich es beschrieben habe. Ich spreche mit Herbie Hancock ständig über den Mut zum Risiko und darüber etwas zu wagen. Seine Meinung dazu ist, dass man hier ist um mutig zu sein. Damit stimme ich völlig überein. Er selbst umgibt sich nur mit Leuten, die die gleiche Einstellung haben und über die Stärke verfügen, etwas zu riskieren. Man darf keine Angst vor Fehlern haben, denn aus Fehlern kann etwas sehr Eigenständiges und Schönes entstehen. Unser Punkt ist, das wir Fehler nicht als solche ansehen. Wir machen Musik und ein Fehler könnte uns eine neue Richtung zeigen, in die wir gehen sollten. “
Quellen:
Nikolaus Harnoncourt, Nikolaus (1982) Musik als Klangrede. Wege zu einem
neuen Musikverständnis. Kassel: Bärenreiter
Terri Lyne Carrington im Interview mit Bertold Möller: Jazz is a Spirit
in: Drumheads!! Schlagzeugmagazin, 2/2005, S.42, Bergkirchen: ppvmedien
2005/11/08
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