2011/01/17

Helmut Schmidt zur Verantwortung der Wissenschaft

Appell an die Verantwortung der Wissenschaft

Wissenschaftler dürfen sich ihrer Verantwortung nicht mehr entziehen. Die Trennung von Wissenschaft und Politik, wie sie der erste Lehrstuhlinhaber der Soziologie 1917 gefordert hatte, gilt nicht mehr. Heute ist es ein Politiker, der die Wissenschaft wieder in die gesellschaftliche Realität einbinden möchte. Kein geringerer als Helmut Schmidt formulierte den dringenden Appell an die wissenschaftliche Elite:

" .... Wissenschaftler spezialisieren sich in einem unerhörten Ausmaß. Vielleicht war Alexander von Humboldt der letzte Universalgelehrte. Den heutigen Wissenschaftlern fehlt häufig der Überblick über den Kosmos unseres Wissens – und unseres Könnens. Damit wende ich mich insbesondere an die wissenschaftlichen Eliten. Ich weiß, das Wort Elite ist ein politisch belasteter Ausdruck. Gleichwohl sind sie, meine Damen und Herren Wissenschaftler, eine Elite. Eliten tragen eine besondere Verantwortung gegenüber der Menschheit. Es mag sein, dass ein Wissenschaftler jemand ist, dessen Einsichten größer sind als seine Wirkungsmöglichkeiten. Es mag auch sein, dass Sie, meine Damen und Herren, Politiker für Menschen halten, deren Wirkungsmöglichkeiten größer sind als deren Einsichten. Gleichwohl können Wissenschaftler nicht beanspruchen, unbehelligt von den Weltproblemen, unbehelligt von den ökonomischen und politischen Geschehen, unbehelligt von den Zwängen, denen ansonsten die Gesellschaft unterworfen ist, ein glückliches Eremitendasein führen. Denn auch als hoch spezialisierter Forscher bleiben Sie ein Zoon politikon. Und deshalb ist Wissenschaft heute nicht nur, wie Carl Friedrich von Weizsäcker gesagt hat, 'sozial organisierte Erkenntnissuche' - sondern Wissenschaft ist zugleich eine der sozialen Verantwortung verpflichtete Erkenntnissuche! ...."
(Helmut Schmidt, DIE ZEIT, 13.1.2011)

Eine ungünstige strukturelle Entwicklung hatte Niklas Luhmann bereits vor 20 Jahren aufgezeigt:
"Die Form der Differenzierung der modernen Gesellschaft, also funktionale Differenzierung. Jedenfalls ist leicht plausibel zu machen, dass bei dieser Form der funktionalen Spezifikation die Auswirkungen der gesellschaftlichen Kommunikation auf die Umwelt zunehmen, zugleich aber die Möglichkeiten, darauf intern zu reagieren, nicht mithalten, weil in dieser Ordnung die Probleme nicht dort bearbeitet werden, wo sie ausgelöst werden, sondern in dem jeweils zuständigen Funktionssystem."
(Niklas Luhmann, 1992, Beobachtungen der Moderne, 151)

Hat der Mensch denn keine Vernunft? 


Viele hatten Luhmann für seine Theorie kritisiert. Dabei hatte der Soziologe nur die ihm vorliegende Situation analysiert. Seine Erkenntnis wurde publiziert, aber nicht zur strukturellen Umgestaltung genutzt. Es mag Gründe dafür geben, Politik und Wissenschaft zu trennen, doch Autismus hat sich nicht bewährt. Vernunft und soziale Verantwortung müssen wieder verbunden werden.

Hellmut Schmidt erinnert daran, dass auch Forscher Verantwortung für die gesellschaftliche Zukunft übernehmen müssen. Theorie und Praxis müssen miteinander verbunden werden und sich wieder auf gesellschaftliche Probleme beziehen. Dabei ist umsichtiges Denken gefragt. Schmidts Vortrag steht für verantwortliches Denken, beruhend auf Umsicht und Analyse bereitet er vernünftige Lösungsmöglichkeiten vor. So sagt er zum Beispiel: "Wir brauchen ein großes, intereuropäisches, interdisziplinäres Forschungsvorhaben mit der ersten Aufgabe, zu erforschen, wie die innere und äußere Entwicklung der EU in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts verlaufen kann, und mit der zweiten Aufgabe, Vorschläge für eine gedeihliche Entwicklung vorzulegen. ..." (a.a.O.)

Wir müssen vernünftige gesellschaftliche Perspektiven entwickeln. Diese Aufgabe lässt sich nicht auf andere abschieben. Auch nicht auf kompetente Denker wie Helmut Schmidt. Denn wir alle stehen in der Verantwortung. Wir müssen selbst dafür sorgen, kompetenter zu werden!
Die Verantwortung kommt mit dem Wissen. Denken ohne Handeln ist sinnlos. Vernunft beinhaltet letztlich immer auch eine konstruktive Denkbewegung. Wer vernünftig werden möchte, kann sich an kompetente Denker orientieren, die sich mit unserer Welt verantwortlich auseinandersetzen.
Helmut Schmidt bietet ein solches Modell. Es geht nicht nur um die Verantwortung der Wissenschaft. Denn es gibt einiges zu tun.

Helmut Schmidt hielt seinen Vortrag anlässlich des 100. Geburtstags der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Abgedruckt wurde er in der Wochenzeitung DIE ZEIT am 13. Januar 2011.

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