Die Art-Redakteure Heinz Peter Schwerfel und Till Briegleb führten ein Gespräch mit Jochen Gerz über dessen Idee von zeitgenössischer Kunst.Vier Anregungen reizen zum Nachsinnen:
(1) „Unser Geschmack wird permanent komplexer, und dadurch wird Kunst marginal. Manches geht an der Kunst heute vorbei. Anders gesagt: Sie löst sich auf in einer ihr immer ähnlicher werdenden Umwelt.“ (Gerz im Gepräch mit Schwerfel/Briegleb In: ART, Juli 2006, 54)
(2) „Tatsache ist, dass die Förderung der großen Mehrheit, die sich Betrachter nennt, durch die Kunst nicht stattfindet. Ich leiste mir den Spass zu sagen: Die Teilung der Welt in Künstler und Betrachter gefährdet die Demokratie. Wir brauchen eine Autorengesellschaft.“ (a.a.O., S.55)
(3) „Eigentlich tue ich als Künstler nichts weiter als Denken zu installieren, ansonsten bin ich neutral.“ (a.a.O., S.55)
(4) „Die Kunst kann sich heute von Konventionen befreien, die sie überwuchern. Es ist an der Zeit, sich von der zeitgenössischen Kunst zu emanzipieren. Sie ist gestrig geworden.“ (a.a.O., 57)
Lassen sich die Ideen von Jochen Gerz von der bildenden Kunst auf die Musik übertragen?
Das Klassikmagzin Crescendo schreibt, ein Gespräch mit dem Dirigenten Nikolaus Harnoncourt zusammenfassend, einige Zeilen. Diese dienen einer fünften Anregung:
(5) “In Zeiten des neoliberalen und rationalen Agierens der Politik droht die Verkümmerung der alten Sprache des Herzens. Wir rücken das vermeintlich Praktische und vermeintlich Notwendige in den Vordergrund. Schon als Kinder lernen wir, dass wichtig ist, was verwertbar ist. In Wirklichkeit ist das, was uns als verwertbar anerzogen wird, am Ende aber nur scheinbar verwertbar. Die Bildung, die zwischenmenschliche Ethik, die in der Kunst und Kultur thematisiert wird, hat heute den Nimbus des Unverwertbaren und wird so gut wie gar nicht mehr wahrgenommen. Gleichzeitig spüren wir eine Sehnsucht nach eben dieser Herzensbildung. Dessen werden wir uns oft viel zu spät bewusst. …
Uns bleibt in dieser Situation nur, zu schreien, zu schreien und zu schreien. Wir müssen die Erziehungssysteme anmahnen. Denn nur, wer als Kind auf das emotionale und das logische Prinzip, auf das runde Menschenbild, geformt wird, verlangt überhaupt nach Kunst und braucht sie. Wer nach vordergründigen Zwecken und nach Brauchbarkeitskriterien erzogen wird, für den wird die Kunst immer ein kleiner Zuckerguss über seinem Leben bleiben.“ (Crescendo. Das Klassikmagazin. Juli/August 2006, S. 7 <- Zitat aus einem Crescendo-Aufsatz nach einem Gespräch mit Nikolaus Harnoncourt)
zu 1): Wenn der Stellenwert von Kunst in unserer Gesellschaft tatsächlich marginal wird, dann muss das nicht unbedingt an einem ständig komplexer werdenden Geschmack liegen. Die Idee erscheint daher sehr gewagt.
zu 2): Wenn die Förderung der großen Mehrheit durch die Kunst nicht mehr stattfindet, nimmt die Kunst also ihren (unterstellten) Bildungsauftrag nicht mehr wahr?
zu 3): Ein ebenfalls humanistisch klingender pädagogischer Ansatz.
zu 4): Die Befreiung von Konventionen? Konventionen können tatsächlich fesseln. Doch stellt sich dann auch die Frage, was aufgegeben und woran festgehalten werden sollte.
Womöglich bietet (5) hierzu eine akzeptable Antwort.
Quellen:
Crescendo. Das Klassikmagazin. Juli/August 2006, S.7. (Ein Aufsatz nach einem Gespräch mit Nikolaus Harnoncourt)
Jochen Gerz im Gespräch mit Heinz Peter Schwerfel und Till Briegleb. In: ART Das Kunstmagazin. Nr. 7 /Juli 2006, Seite 54-57)
Sommer, Tim In: ART. Das Kunstmagazin. Nr. 8 / August 2006, S. 3
2006/08/07
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