2006/08/27

Die Elemente des menschlichen Lebens

„Ich glaube, er muß nur die Elemente des menschlichen Lebens kennen, und die muß er, so scheint mir, bis spätestens zu seinem 21. Lebensjahr kennen, im Zustande verhältnismäßiger Unschuld und Naivität. Was er später lernt, hat zu sehr Bildungscharakter, und ich glaube, Bildung in bürgerlichem Sinne schadet jedem Künstler oder zwingt ihn zu völlig überflüssigen Umwegen. Man kann dreitausend Bücher lesen, etwa über das Problem der Armut, gute Bücher, kluge Bücher. Man kann Studien machen, das heißt, sich unter die sogenannten armen Leute mischen oder unter die reichen. Aber das alles hilft wenig, wenn man nicht vorher weiß, daß Armsein einfach bedeutet, kein Geld für Bonbon, für Milch, für Zigaretten, Schnaps und für seine Kinder zu haben, und daß Reichsein üblicherweise bedeutet, sich zu langweilen und leidenschaftlich nach dem sogenannten Elementaren zu verlangen. Solche Dinge etwa, die vielfach ineinanderverflochten sind und im Grunde sehr kompliziert, da sie auch etwas mit Religion zu tun haben, kann man nicht lernen. Sie werden, wenn man sie lernt, nicht Kunst, sondern künstlich. Hunger, Tod, Liebe und Haß, Glück und Armut, Gott und die Zeit. Lernen kann man, was für einen Autor viel wichtiger ist als Milieustudien: schreiben.“ (Heinrich Böll, 1961 im Gespräch mit Horst Bienek unter Mitarbeit von Karl Markus Michel. In: Bienek, 1962)

Quelle:

Bienek, Horst (1962) Werkstattgespräche mit Schriftstellern. München: Carl Hanser, S. 141.

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