2006/07/13

Improvisation in der Sozialen Arbeit

1. Improvisation in der Rhythmik

In der Rhythmik wird das Improvisieren hoch bewertet.

Improvisation. In der Beschreibung des Geschehens im Rhythmikunterricht ist Improvisation ein zentraler Begriff." (Ring/Steinmann, 1997, 121)

Reinhard Ring und Brigitte Steinmann stellen drei mögliche methodische Umsetzungen vor:

"- Der Schüler erfindet eine neue Bewegung und der Lehrer begleitet ihn am Instrument improvisierend.

- Die Stunde endet mit einer kleinen Bewegungsimprovisation, in der die Schüler die aus der Musik erarbeiteten Bewegungselemente einbringen.

- Ein Schüler improvisiert mit Stimme und Körper, die Mitschüler geben ihm neue Impulse durch wechselnde Positionen im Raum und improvisierte Stimmäußerungen. …“ (Ring, Steinmann, 1997, 121)

2. Improvisation bei Derek Bailey

Für den Musiker Derek Bailey ist die Improvisation ein unverzichtbarer Bestandteil, auch in der abendländischen Musik. Derek Bailey hält es mit E. T. Ferand, aus dessen 1961 erschienen Buch 'Die Improvisation in Beispielen aus neun Jahrhunderten abendländischer Musik' Bailey zitiert:

"Diese Improvisationsfreudigkeit in Gesang und Instrumentalspiel ist in nahezu allen Phasen der Entwicklung nachweisbar. Sie war stets eine treibende Kraft im Hervorbringen neuer Formen, und jede musikgeschichtliche Darstellung, die sich ausschließlich auf die in Schrift und Druck überlieferten praktischen und theoretischen Quellen stützt, ohne das improvisatorische Moment in der lebendigen Musikpraxis zu berücksichtigen, muß notgedrungen ein unvollständiges, ja verzerrtes Bild der tatsächlichen Musikübung bieten. ..." (E.T. Ferand zitiert in Bailey, 1987, 8)

there is no musik without power -
there is no power without actual response

Wer improvisieren kann, kann schnell antworten, nicht nur auf musikalische Fragen. Wer gut improvisieren kann, kann schnelle Entscheidungen treffen. Diese spontane Fähigkeit ist nicht nur in der Musik gefragt.

3. Improvisation in der Musiksozialarbeit

Während Musiktherapie heute zunehmend von Diagnosen ausgehen und auf die Beseitigung von Störung ausgerichtet sind und Musikpädagogik leider noch zu oft auf das musikalische Produkt ausgerichtet ist, zielt die Musiksozialarbeit ausdrücklich auf außermusikalische Aspekte: Mit Musiksozialarbeit soll die Entwicklung von Personen gefördert und die Fähigkeiten zur Alltagsbewältigung verbessert werden.

Hartmut Kapteina von der Universität Siegen betont den hohen Stellenwert der Improvisation in der Musiksozialarbeit.

Auch Burkhard Hill, Professor für Handlungslehre der Sozialen Arbeit an der Fachhochschule München setzt sich für eine Stärkung der Musiksozialarbeit ein.

Immerhin gehören gerade bei Jugendlichen Musikhören und Musizieren zu den beliebtesten Freizeitbeschäftigungen. Vergleiche die von Burkhard zusammengetragenen Zahlen (Burkhard, 2004, 332).

Die sich in der Musikrezeption oder im aktiven Musizieren spiegelnden Bedürfnisse Jugendlicher stellt Burkhard in drei Dimensionen dar:

1. Sich selbst in der Musik wieder finden
2. Unter Gleichaltrigen sein und mit Musik Gemeinschaft stiften
3. Mit Musik etwas gestalten können

Um Musik besser hören und verstehen zu können sind Lernprozesse erforderlich, die unter geeigneter Anleitung effektiviert werden können.

Sowohl beim aktiven Musizieren wie auch bei der Musikrezeption ist konzentrierte Aufmerksamkeit gefragt. Die unterschiedlichen Modi der Musikwahrnehmung ermöglichen ein gezieltes Training; die bewusste Verarbeitung musikalischer Informationen stellt unser Gehirn vor Herausforderungen und ein gezieltes Training unterstützt diese aktiven Prozesse.

In komplexerer Musiksozialarbeit bildet differenziertes Hören und Musizieren lernen eine Einheit. Um auch ohne Vorkenntnisse der Beteiligten bereits motivierende Ergebnisse zu erzielen, bietet sich Improvisation als eine der wichtigsten Schnittstellen an.

Die Methoden im Bereich Improvisation ermöglichen ein fein abgestuftes Angebot, welches der jeweiligen Leistungsfähigkeit angepasst werden kann.

4. Improvisation in der Musiktherapie

Improvisation entsteht aus dem Augenblick, in dem Musik gleichzeitig wahrgenommen, erlebt und gestaltet wird (vgl. Plahl/Koch-Temming, 2005, 173). Die Musiktherapeutinnen Christine Plahl und Hedwig Koch-Temming widmen dem Thema 'Improvisation in der Kindermusiktherapie' besondere Aufmerksamkeit und unterscheiden dabei u. a.:

- spontane Improvisation
- freie Improvisation
- fokussierter Improvisation
- thematische Improvisation
- Bewegungsimprovisation
- Stimmimprovisation
- Instrumentalimprovisation

In der freien Improvisation werden keine Spielregeln, Strukturen oder Themen vorgegeben. Eine fokussierte Improvisation kann durch vorgegebene Spielregeln oder Themen entwickelt werden. Die Autorinnen beschreiben anschaulich:

"In einer thematischen Improvisation wird der Rahmen für die Improvisation durch ein bestimmtes Thema (beispielsweise Szenen des heutigen oder gestrigen Tages) oder ein Objekt (etwa ein Bild) vorgegeben, das die musikalische Phantasie des Kindes anregt und es ihm ermöglicht, damit verbundene Gefühle und emotionale Veränderungen darzustellen. Vor allem bei Kindern mit Schwierigkeiten in der Wahrnehmung und im Ausdruck von Gefühlen ist es hilfreich, einzelne Gefühle oder Gefühlsveränderungen - von der Angst zum Selbstvertrauen, von der Wut zur Ausgeglichenheit oder von der Traurigkeit zur Fröhlichkeit - musikalisch darzustellen. Dies aktiviert das Kind emotional und erleichtert es ihm, im musikalischen Ausdruck seine Gefühle beziehungsweise emotionalen Spannungen zu regulieren. Durch anschauliche Improvisationsthemen wie Gewitter, Dschungel oder Roboter können eindrucksvolle klangliche Ergebnisse entstehen und dazu passende musikalische Geschichten erzählt werden. Thematische Improvisationen unterstützen durch ihren klaren Rahmen einen fokussierten und strukturierten Ausdruck des Kindes und regen gleichzeitig seine Phantasie, seine Erlebnisfähigkeit und seinen kreativen Ausdruck an." (Plahl, Koch-Temming, 2005, 175)

Die Autorinnen führen weiter aus: Improvisiertes Spiel findet sich im Orff-Schulwerk, Musik wurde in der Günther-Schule zu Tänzen erfunden und Lili Friedemann arbeitete mit Kollektivimprovisationen, bezeichnet als 'Team-Musik', zur Entwicklung der Persönlichkeit.

5. Zusammenfassung und Perspektive

Zusammenfassend ist zu sagen: Musizieren und Musikhören können unter geeigneter Anleitung zu lebendigen und dynamischen Prozessen entwickelt werden. Wer derart gelernt hat zu improvisieren, hat nicht nur im Spiel gelernt seine Entscheidungsfähigkeit zu üben, sondern wird auch Kenntnisse über die Möglichkeiten gezielter Variationen erwerben können.

Die bei der Improvisation erworbenen Erfahrungen beinhalten ein zunehmendes Repertoire um auf musikalische Reize zu reagieren.

Indem kollektives Improvisieren eingeübt wird, werden zugleich auch kommunikative Fähigkeiten, Wahrnehmung, Ausdrucksmöglichkeiten verbessert.

Eingeübtes musikalisches Variieren in der Gruppenimprovisation beinhaltet zugleich eine Übung mit Verhaltensmodifikation. Dieses Setting erlaubt nicht nur soziotherapeutische Interventionen, sondern bietet auch Gelegenheit zum Kommunikationstraining. Der Transfer auf Alltagssituationen wird in einer qualifizierten Musiksozialarbeit stets im Auge behalten.

Wer sich in der Kunst der Improvisation verbessert, erhöht das eigene Können und erweitert sein Repertoire an Möglichkeiten. Dies kann mit dem Medium Musik auf eine spielerische Weise erfolgen. Lernen kann auch Spass bereiten. Und was spielerisch und mit Freude erworben wurde, wird auch besser gelernt. Dies ist aus der Lernpsychologie bekannt.

Wer seine Gedanken zur Improvisation auf anspruchsvolle intellektuelle Weise vertiefen möchte, dem sei auch 'Hear and Now' von Peter Niklas Wilson empfohlen.

Quellen:

Bailey, Derek (1987) Improvisation. Kunst ohne Werk. Hofheim: Wolke.

Hill, Burkhard (2004) Musik in der Jugendarbeit. In: Hartogh, Theo; Wickel, Hans Hermann (2004) Handbuch Musik in der Sozialen Arbeit. Weinheim: Juventa, S. 329-344.

Kapteina, Hartmut (2003) http://www.musiktherapie-sasp.de/hartmut_kapteina/material/lehrgebiete/neu_musik_in_der_sozialen_Arbeit.pdf

Plahl, Christine; Koch-Temming, Hedwig (2005) Improvisation in der Kindermusiktherapie. In: Plahl, C.; Koch-Temming, H. (2005) Musiktherapie mit Kindern. Bern: Hans Huber, S. 173-179.

Ring, Reinhard; Steinmann, Brigitte (1997) Lexikon der Rhythmik. Kassel: Gustav Bosse, S.121.

Wilson, Peter Niklas (1999) Hear and Now. Gedanken zur improvisierten Musik. Hofheim: Wolke.

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