2006/05/05

Aristoteles als Modellpädagoge

1. Warum sollte das Wissen Aristoteles verborgen werden?

Die Kirche bemühte sich lange Zeit die Bücher von Aristoteles zu verstecken, so beschreibt es Umberto Eco in seinem Roman 'Im Namen der Rose'. Darüber müssen wir uns nicht wundern, denn Aristoteles zeigt auf, wie der Mensch sich selbst befähigen kann auf seinem Weg zu einem guten Leben.

Warum sollte das Wissen Aristoteles jedoch vor anderen verborgen werden?

Es gab viele Menschen, zu deren Verhaltensweisen das lieblose Spiel der Zurückhaltung von Information als Strategie zum Aufbau und zur Sicherung der eigenen Macht gehört.

Aristoteles dagegen vermochte es die lesende 'Elite' zu beeindrucken. Beeindruckt wurden dabei viele, die danach strebten, Wissen für die eigenen Zwecke zu kanalisieren. Der breiten Masse Aristoteles vorzuenthalten war vielleicht eine Strategie derjenigen, die den Vorteil der Erkenntnisse des Philosophen für sich selbst und/oder ihre engere Bezugsgruppe nutzen wollten.

Das diese Strategie im Abendland über Jahrhunderte hinweg praktiziert werden konnte, lag sicher nicht im Sinne von Aristoteles, der in seinem Wirken wohl weit davon entfernt war, sich in die Schar religiöser Führer einzusortieren. Auch war sich wohl Aristoteles der Schwierigkeit in hohem Maße bewusst, die mit der Realisierung eines optimal glücklichen Lebens verbunden sind und für den Forschenden bestand wenig Anlass, seine philosophisch erarbeiteten Erkenntnisse zu verbergen.

Aristoteles lernte in Platons Akademie und erzog später Alexander den Großen (Eroberer). Doch erscheint Aristoteles nach derzeitigem Stand meiner Forschung gerade nicht als verantwortungsloser und skrupelloser Stratege des Krieges oder des Herrschens.

2. Das ordnende Denken nach Aristoteles

Das ordnende Denken, die Wissenschaft überhaupt, wird manchmal auf Aristoteles zurückgeführt. Auch Max Weber, der erste Lehrstuhlinhaber der Soziologie in Deutschland, bediente sich einer ähnlichen Systematik.

Im so genannten Positivismusstreit befruchteten sich konkurrierende Auffassungen von Wissenschaft. Hier wurde die Gelegenheit genutzt, sich Wissenschaftstheoretisch zu positionieren. Doch was kam letztlich dabei heraus?

Der pragmatisch vorgehenden 'mainstream' (quantitativ vorgehende empirische Sozialforschung) behauptete sich deutlich. Dies gilt, wenn Anzahl der Forschungsstudien und investierte Forschungsgelder das Kriterium der Bewertung stellen.

Der Forschungspraxis gelang es in hohem Grade, der qualitativen Kritik zu entgehen. Dabei halfen in nicht geringem Maße eine ignorante Haltung und einige Hinweise, dass auch in der Forschung praktikables Vorgehen gefragt sein sollt. Letzter Hinweise kamen nicht nur von Forschungseinrichtungen, die für ihre Forschungsaufträge bezahlt werden wollten.

Doch diese Verirrungen der jüngsten empirischen Sozialforschung sollte nicht auf Aristoteles zurückgeführt werden. Eine Kritik der aktuell praktizierten Forschungsmethoden sollte vielmehr am konkreten singulären Forschungsdesign erfolgen. Auch dabei können Erkenntnisse und Argumente aus dem wissenschaftstheoretischen Diskurs eingebracht werden.

3. Analyse und Synthese

Kritik und philosophische Reflexion kennen wir bereist seit Jahrtausenden. So warnt denn auch die Bibel vor dem Biß in den Apfel der Erkenntnis. Die anschauliche bildliche Sprache der Metapher sollte nicht über die Tiefe des Gedankens hinwegtäuschen. Doch gerade bei der Dekodierung von Metaphern sind Interpretationsleistungen erforderlich.

Die Ergebnisse des Positivismusstreits in der zweiten Häfte des 20. Jahrhunderts (Wissenschaftstheorie), wie auch die Ergebnisse der Gehirnforschung aus den Neurowissenschaften des beginnenden 21. Jahrhunderts unterstützen die These, dass eine übermäßig analytisch vorgehende Methode letztlich nicht haltbar ist.

Die Wissenschaft aber auch bereits das Denken verlangen analytische wie synthetische Fähigkeiten. Bereits Aristoteles Auseinandersetzung mit dem 'mittleren Weg' war alles andere als platt und simplifiziert und hat bis heute an Relevanz nicht eingebüßt.

Das Bilderverbot kennen wir nicht erst aus dem aktuellen Diskurs zum religiösen Fundamentalismus. Das Bilderverbot kennzeichnet auch die moderne Auffassung von 'Wissenschaft', denn das analytische Verständnis von Wissenschaft hadert mit der Metapher. Im Gegensatz zur Wissenschaft kennt die Kunst dieses Ausmaß der Aversion gegen das Bild nicht. Im Gegenteil: die verdichtende Kraft der Metapher wird gerade in der Poesie genutzt.

Wenn Aristoteles heute als einer, wenn nicht der Begründer des so genannten abendländischen oder moderner: westlichen wissenschaftlichen Denkens aufgeführt wird, so mag dies seine Berechtigung haben. Jedoch sollte das wissenschaftliche Verständnis des Aristoteles nicht verwechselt werden mit dem, was sich im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs derzeit noch zu behaupten versteht.

Doch warum dieser Exkurs zum wissenschaftlichen Verständnis, wenn es doch um das pädagogisches Modell des Aristoteles geht?

4. These zum dynamischen Verhältnis von Analyse und Synthese

Die Antwort ist schlicht und einfach. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem erzieherischen Modell des Aristoteles kann nicht ohne eine Auseinandersetzung mit seinem fundamentalen Verständnis erfolgen. Und wenn wir das pädagogische Modell des Aristoteles relevant machen möchten für die Gegenwart, so sind sowohl das wissenschaftliche Verständnis des Aristoteles, wie das der Gegenwart zu untersuchen.

Hierzu stelle ich folgende These auf:

Das gegenwärtige Verständnis in den Sozialwissenschaften ist gekennzeichnet durch eine unausgewogene Balance. Das mangelnde Gleichgewicht erfolgt durch eine Überbetonung des Analytischen und eine Unterbetonung des Synthetischen.
Die Arbeitsteilung zwischen Wissenschaft (Analyse) und Kunst (Synthese) wird in der derzeit eingerasteten Proportionen das 21. Jahrhundert nicht überleben.


Derzeit steht demnach eine eher analytische Perspektive in der empirischen Sozialwissenschaft einer stärker synthetischen Perspektive gegenüber. Die empirische Sozialwissenschaft ist gekennzeichnet durch eine hohe Differenzierungsleistung. Jedoch behindern beispielsweise die Einschränkungen der für eine quantifizierbare empirische Forschung verwendbaren Definitionen der Begriffe eine spätere (synthetische) Verwertung der Forschungsergebnisse. Dieses Dilemma ist alles andere als unbekannt, wird jedoch im Forschungsbetrieb tendentiell ausgeblendet.
Die Aussagekraft derartiger Forschungsergebnisse ist in der Regel sehr begrenzt. Somit wird in einer ernstzunehmenden Forschung i.d.R. ausgeprägt differenziert, und das war es schon.
Die Verwertung von Forschungsergebnissen aus den Sozialwissenschaften erfolgt außerhalb des sehr engen analytischen Wissenschaftsverständnisses. Die hier erfolgende Synthese- und Verallgemeinerungerungsleistung erscheint dem analytischen Wissenschaftsverständnis allerdings bereits oftmals bedenklich.
Zwischen Theorie und Praxis besteht ein Spannungsfeld, mehr getarnt als aufgedeckt durch Begriffe wie 'Schnittstelle' etc. So wird beispielsweise auch die 'Schnittstelle' zwischen analytischer Sozialwissenschaft (Differenzierungsleistung) und pädagogischer oder auch künstlerischen Praxis (Integrationsleistung) eher vage umrissen als exakt und eindeutig beschrieben und geklärt.

Den Gegenspieler der Analyse (Wissenschaft) stellt die Synthese. Sehr komprimierte synthetisches Möglichkeiten bietet dem Künstler die Metapher, das sprachliche Bild. Auch Träume erfüllen eher synthetische als analytische Funktionen. Auch eine plötzliche Erkenntnisleistung wird wohl eher als Synthese denn als Analyse aufzufassen sein. Erkenntnisse zu haben, bleibt in vielen Fällen nicht ohne Folgen. Das besagt beispielsweise das Bild der sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Ein Träumender, der erkennt, wird dadurch nur all zu leicht aus seinem (erträumten) Paradies verbannt.

Nun gehört Aristoteles sicher nicht zu denen, die das Träumen überbetonten. Doch auch wenn Aristoteles sich bereits stark mit dem Handeln auseinandergesetzt hatte, bedeutet dies nicht, dass er zu den blinden Aktivisten gerechnet werden sollte, also das Geschäft des unreflektierten Handelns betrieb. Im Gegenteil, nicht umsonst wurde in der Vergangenheit die Wissenschaft immer wieder auf Aristoteles zurückgeführt. Es stellt sich allerdings die Frage, wie es bei der oben angesprochene Balance bei Aristoteles stand.

5. Zum Problem des richtigen Handelns

Aristoteles setzte sich mit dem 'richtigen Handel' auseinander, jedoch weniger um dabei theoretisches Wissen zu generieren.

Das Handeln des Menschen war für Aristoteles das politische Handeln. Aristoteles bemühte sich zu ergründen, wie die nahezu unendlichen Möglichkeiten des Handelns im Leben eines Menschen sinnvoll reduziert werden könnten.

Eine Orientierungshilfe zur Reduktion von Komplexität versprach sich Aristoteles durch die Auseinandersetzung mit menschlichen Werten. Denn von der Bezugnahme auch an einem - noch herauszufindenden - höchsten Wert des Menschen versprach sich Aristoteles nicht gerade wenig, wenn es darum gehen sollte, Entscheidungen für das eigene Handeln zu treffen.

Wir haben es also bereits bei Aristoteles mit der ernsthaften Auseinandersetzung hinsichtlich von Entscheidungen zu tun.

Letztlich ist die Frage, 'Was soll ich tun?', immer wieder neu zu beantworten.

Dabei erschien es Aristoteles offenbar sinnvoll, auf eine Art Algorithmus zurückgreifen zu können. Und gerade um auf solch eine Entscheidungshilfe zurückgreifen zu können, war Aristoteles die Auseinandersetzung mit einer Art 'Wertehierarchie' wichtig. Aristoteles war sich der Bedeutung des Wissens um einen höchsten Wert für den Prozess von Entscheidungsfindungen sicher.

Was soll ich tun? Diese Frage, dieses Problem ist alles andere als banal. Es war und ist bis heute auch nicht nur das Problem von Kindern und Jugendlichen (Pädagogik), sondern eine existentielle Fragestellung, vor der Menschen immer wieder in ihrem Leben gestellt werden.

Und es ist weder nur das Problem des aktuell depressiven Menschen oder des sich am eigenen Leben gescheitert erlebten Menschen. Was soll ich tun? Mit dieser Frage werden heute Bestseller verkauft. Ein lesenswertes Beispiel bietet Tommy Jaud (2006) Vollidiot. Der Roman. 3. Aufl. (2006) Frankfurt: Fischer Verlag.

Die aus der Ich-Perspektive erzählende Hauptfigur des Buches erachtet sich in der Singlephase IV ("Die Frauen SIND total bescheuert. Fakt ist, sie interessieren sich einen Dreck für dich, ..." (Jaud, 2006, 10).

Simon hat das Buch 'Sorge Dich nicht, lebe!' von seinem Freund Flik geschenkt bekommen und empfindet als Frechheit, das dieser denkt, er habe es nötig. Dennoch liest der Held das Buch, sucht die Stelle mit den Problemlösungen heraus und beantwortet die hier gestellten Fragen:

"Frage eins: Was ist das Problem?
Antwort: Ich habe keinen Bock, meine Ziele aufzuschreiben.
Frage zwei: Was ist die Ursache des Problems?
Antwort: Ich weiß nicht, warum ich das tun sollte, weil ich keine Ziele habe.
Frage drei; Welche Lösungen sind möglich?
Antwort:
a) Ich mach das ein andermal.
b) Ich haue Flik das Buch um die Ohren.
c) Ich baller mir zehn Bier hinter die Binde.
Frage 4: Welche Lösungen schlagen Sie vor?
Antwort: c!
" (Jaud, 2006, 15)

Warum schaffte der Autor den Sprung, warum wurde dieses Buch zum Bestseller?
Eine mögliche, aber auch sehr plausible Antwort besteht darin, dass der Autor eine Figur entwickeln konnte, die vielen Menschen der aktuellen Zeit als geeignete Projektionsfläche dienen konnte. Das Buch heißt Vollidiot. Wenn die Schwächen von Simon tatsächlich die Schwächen von vielen der heute lebenden Menschen sind, so hat der Leser die Chance, aus der Distanz (Simon ist ja nur eine Romanfigur) sich selbst gespiegelt zu sehen und über sich selbst zu lachen. Das ist nur eine vieler möglicher Interpretationen, doch sie sei hier gewählt.

Was nützt das 'Hirnen', was nützt das Geschwätz, wenn es nicht im eigenen Handeln beherzt wird?

Doch was ist, wenn der Mensch noch nicht einmal weiß, was er will?

Diese Frage beschäftigt nicht nur aufwachsende Jugendlichen und Spätpubertierende, mit dieser Problematik setzen sich Generationen von Eltern, Erzieher und Pädagogen auseinander.

Auch die Behindertenarbeit und die Therapie (als nachträgliche Pädagogik) haben sich immer wieder mit dieser Problematik auseinanderzusetzen. Wer möchte nicht seinen Zögling dabei helfen, auf die richtige Bahn zu kommen?

6. Aristoteles befähigt zum politischen Handeln

Als Pädagoge konzentrierte sich Aristoteles weit vor Niklas Luhmann auf die Reduktion von Komplexität. Bereits Aristoteles richtete sein Wirken nicht exklusiv auf Kinder, er wollte offenbar vor allem Politiker belehren. Hierzu ist es sinnvoll, sich gedanklich in die alte griechische Zeit der Polis (Stadtstaat) zurück zu versetzen. Ein freier Bürger hatte nicht nur politische Rechte, sondern war darüber hinaus zur politischen Mitwirkung in weit größerem Maße verpflichtet, als das bei der heutigen Stellvertreterpolitik der Fall ist.

Indem Aristoteles die Zielsetzung der Politik bestimmte und die Qualität eines Politikers an der Qualität der von ihm erarbeiteten Verfassung bemaß, betonte der große Erzieher erwachsener Kinder bereits in hohem Maße den Stellenwert der Gestaltung des Settings, also der sozialen Umgebung der zu Fördernden.

Und der Pädagoge der Menschen gab vor: Die Verfassung ist dann gut, wenn mittels dieser Regeln Menschen realisiert werden kann, dass Menschen mit guten Verhaltensweisen herangezogen werden können.

In seiner praktischen Philosophie rückt Aristoteles daher die Frage des richtigen Handelns in das Zentrum der Aufmerksamkeit.

Wenn Aristoteles vom Handeln spricht, so geht es ihm nicht um irgendein Handeln. Aristoteles betont den Wert des wohl Überlegten. Und damit einher sei dem Ziel des Handelns die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken. Handeln ist also auf ein Ziel ausgerichtet; und dieses Ziel ist kein beliebiges! So empfiehlt Aristoteles sich mit hohen - und besser - mit dem höchsten Ziel des Handelns auseinanderzusetzen.

Mit solch einer Vorgehensweise ist die Möglichkeit einer Reduktion von Handlungsmöglichkeiten verbunden und Aristoteles versucht aufzuzeigen, aus der Vielzahl denkbarer Handlungen die weniger Optimalen geschieden werden können.

7. Arbeit mit der eigenen Wertehierarchie

Vor diesem Hintergrund arbeitet der Philosoph die immense Bedeutung heraus, die in der Erkenntnis des 'höchsten Gutes' für den Menschen bestehen könnte. Aristoteles arbeitet mit einer interessanten philosophischen Technik und steht damit bis heute zur Disposition: für einen kritischen und kontrovers geführten philosophischen Diskurs.

Aristoteles plädiert zum einen dafür, dass der Mensch sein Handeln auf ein ‚höchstes Gut’ beziehen sollte.

Doch dieses höchste Gut wird nicht einfach gesetzt, etwa wie es Substanzlosere mit Nominaldefinitionen versuchen, im Gegenteil, Aristoteles zieht hierzu ein ganzen Bündel von Vorgehensweisen heran und bemüht sich um eine wohl ausgewogenen Argumentation.

Dabei deklariert Aristoteles dieses Bündel von Vorgehensweisen wohl wissend nicht als abgeschlossen und nicht mehr zu vollständigen, wodurch er sich von den vielen dogmatischen Führern unterscheidet und der wissenschaftlichen Vorgehensweise weit das Tor eröffnet.

Das besondere Kennzeichen dieser Art von Vorgehensweise besteht aber eben genau darin, dass sie anschlussfähig bleibt. Und genau dieser Sachverhalt stach manchen Möchtegern-Diktator wie ein Dorn im Fleische. Doch wurde der geistige Gehalt dieses Werkes selbst von den Informationsunterdrückern geschätzt, so dass einige von Aristoteles Schriften zwar über eine lange Zeit verborgen gehalten wurden, dennoch aber in einzelnen Exemplaren auch sehr gut behütet und bis heute erhalten geblieben sind.

Die Besonderheit der Methode des Meisters wurde sehr geschätzt, dabei können zwei Aspekte hervorgehoben werden:
1. Genauigkeit nur in sinnvollem Maße (damit uns eine unendliche Regression erspart bleibt (sinnloses Grübeln soll vermieden werden)
2. Anschlussfähigkeit, das große Kennzeichen fruchtbarer wissenschaftlich geführter Diskurse

Doch Aristoteles wäre nicht Aristoteles, wenn er trotz dieser potentiellen Offenheit nicht selbst ein Ergebnis auf der Suche nach diesem höchsten Gut aufweisen könnte. Und dieses Ergebnis hat es in sich, soviel sei hier bereits verraten.

So versucht Aristoteles zu erarbeiten, wodurch die Qualität eines höchsten Gutes ausgezeichnet sein könnte. Und der zugeneigte Leser kann dankbar zur Kenntnis nehmen, wie sich Aristoteles dieser großen Frage stellt. Eine positivistische Reduktion ist dabei zumindest für mich derzeit noch nicht erkennbar.

So bleibt Aristoteles Schrift bis heute in vieler Hinsicht ausgesprochen lehrreich. Evidenz bekommt hier ein großes Beispiel. Aristoteles vermochte kritische Geister zu beleben und anzuregen und damit verschaffte sich Aristoteles über Jahrtausende hinweg eine dankbar befruchtete Leserschaft.

Natürlich gibt es auch Kritisierbares, aber Aristoteles ging es weniger darum, religiöse Dogmen zu setzen, als einen Diskurs unter Wahrhaftigen anzuregen.

8. Sinn und Unsinn

Finden wir bei Aristoteles eine kritische Auseinandersetzung mit dem Sinn bzw. Unsinn kriegerischer Auseinandersetzungen? Immerhin lassen sich auf der anderen Seite viele Beispiele finden, die sich auf das (mutige) Verhalten im Kriege beziehen. Ich selbst bin mit meinen Studien noch nicht so weit vorangeschritten, um diese Frage abschließend beantworten zu können.

Doch bereits jetzt ist darauf hinzuweisen, dass es auch diesbezüglich gilt, keine vorschnellen Schlüsse zu ziehen. Denn was als exemplarische Beispiele in der Argumentation von Aristoteles fungiert, sollte weder überinterpretiert noch in unzulässiger Weise verallgemeinert werden.

Was jedoch schon herausgearbeitet werden konnte, ist, dass für Pädagogik wie für Therapie als wesentlich aufzufassende Aspekte bereits von diesem großen Philosophen bearbeitet wurden. Und dies führte in nicht geringer Weise zu einer großen Anerkennung des Philosophen.

9. Aristoteles und Therapie

So finden sich heute gerade auf der verhaltenstherapeutischen Spielwiese einige nur vermeintlich neu formulierte Zusammenhänge! Einiges, was die verhältnismäßig hohe Akzeptanz der Verhaltenstherapie heute womöglich im Wesentlichen ausmacht, wurde in prägnanter und griffiger Form bereits von Aristoteles in einer ansprechend wie gehaltvollen Art und Weise eingebracht, wie sie von vielen bewussten oder unbewussten Nachfolgern (Spätadoptionen) selten erreicht werden konnte.

Betrachten wir etwa die aktuellen therapeutische Behandlung von Angst oder die therapeutischen Adaptionen im Umgang mit Lust und Unlust und stellen wir diese den wertvollen und gehaltvollen Ansätze des großen Arztes gegenüber, vermögen wir möglicherweise zu erkennen, über welche großartige pädagogische Tradition wir bereits seit Jahrtausenden verfügen.

Spätestens seit Aristoteles gilt, dass eine bloße theoretische Erkenntnis oder Kenntnisnahme nicht ausreichend ist. Dies wird beispielsweise im therapeutischen Kontext immer wieder dann offensichtlich, wenn mit kognitiven therapeutischen Interventionen eine angezielte Verhaltenmodifikation nicht erreicht werden konnte.

Aristoteles lehrte bereits, dass das, was durch vernünftiges Denken erschlossen werden konnte, nicht ungenutzt bleiben, sondern zur Modifikation des Verhaltens genutzt werden sollte. Dabei hat die Frage nach dem höchsten anzustrebenden Gut eine wichtige Bedeutung. Sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen ist bis heute sicher eine lohnenswerte Aufgabe geblieben.

Das Verhalten, tagtäglich eingeübt, wirkt sich auf die Ausbildung des Charakters des Menschen aus. Diese These hat uns Aristoteles geliefert. Darauf konnte letztlich auch die moderne Verhaltenstherapie aufbauen.

10. Reflexion und Ideologie

Aristoteles' Erkenntnisse kontrastieren übrigens auch in einem enormen Maße zur späteren faschistischen Rassenideologie. Diese unhaltbare Position, die von den Nationalsozialisten forciert wurde, zeichnete sich unter anderem dadurch aus, die Erkenntnisse Aristoteles vollkommen zu ignorieren.

Eine langjährig geübte Nicht-Nutzung der eigenen Vernunft vermag kaum aus dem trüben Gewässer der Unmündigkeit zu führen. Nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus gilt heute ein auf Unreflektiertheit basierendes opportunistisches Verhalten vielen Menschen mehr als nur suspekt.

Nach Aristoteles kann also mit der Einübung eines ‚feigen’ Verhaltens kein hoher sozialer Charakter entwickelt werden.

Einem sozial verträglichen, empfehlenswerten Charakter wird heute in der Regel ein recht hoher Wert zugeschrieben.

Dennoch leben wir wohl auch zu Beginn des 21. Jahrtausends noch nicht in einer Welt, in der edle Charaktere, die Aristoteles erfreut hätten, in tatsächlich entscheidender Weise führen. Wenn dies gilt, haben wir Grund zu hoffen: Denn es kann also noch besser werden.

11. Aristoteles' Aufgabe für den politisch Handlungsfähigen

Für Aristoteles bestand die Aufgabe des Politikers darin, eine Verfassung zu gestalten, so dass damit die Menschen zum Guten erzogen werden können. Dem Mensch als politisches Wesen wurde damit von Aristoteles eine sinnvolle Aufgabe zugewiesen. Gerade in sinnentleerten Zeiten und Verfassungen könnte es sehr lohnenswert sein, sich auf Aristoteles zurück zu besinnen.

12. Sinnverlust und existentielles Vakuum

Aristoteles befaßte sich mit Aspekten, die so mancher erst auf die große Zeit der Psychoanalyse datiert. Auch hier irrt sich die Masse, denn Nicht-Wissen ist nicht identisch mit Nicht-Existent. Der Psychoanalytiker Viktor Fränkl bezeichnete in seinen Schriften das 20. Jahrhundert als Zeitalter des 'Existentiellen Vakuums'. Doch gerade in Zeiten des Sinn-Verlustes erscheint die Auseinandersetzung mit Menschen, die sich mit einem sinnvollen Handeln auseinandergesetzt haben durchaus als sinnvoll.

13. Lust und Unlust bei der Handlungsoptimierung

Bereits weit vor Sigmund Freud betonte Aristoteles die immense Bedeutung von Lust und Unlust. Aristoteles wußte von dem hohen Stellenwert der Lust, wie sie heute durch die wissenschaftliche Forschung (Lerntheorie, Hirnforschung, etc.) bestätigt wird. Aristoteles Verhältnis zu Lust und Unlust war von einer klaren Stringenz geprägt. Das Thema 'Lust und Unlust' bei Aristoteles findet sich in den psychotherapeutischen Theorien von Sigmund Freud aufgegriffen. Wer die Halbwertszeit der Theorien beiden Theoretiker vergleichen möchte, kann dies übrigens jetzt bereits in Angriff nehmen.

Das Handeln sollte immer unter dem Aspekt von Lust und Unlust erachtet werden, so bestimmte bereits große griechische Philosoph. Aristoteles ging es nicht um irgend ein Handeln, wie etwa das 'soziale Handeln' von Max Weber, sondern um ein sorgfältig ausgewähltes und optimiertes Handeln!

Handeln ist bereits für Aristoteles sozial bezogen, doch Aristoteles befaßte sich weniger mit spekulativer, konstruierender Theorie, sondern mit der Frage, wie gewohnheitsmässiges Handeln otimiert werden kann, weil er bereits wußte, dass der Charkter durch das Handeln positiv entwickelt werden kann. Dieses Wissen ist bis heute vielen fremd. Statt dessen beschäftigen sich Menschen, die eigendlich ernst genommen werden möchten, mit statischen Persönlichkeitsmodellen, ohne sich der Bedeutung dynamischer Möglichkeiten auch nur annähernd bewußt zu sein!

Aristoteles zeigte sehr früh den geringen Stellenwert des zweckrationalen Handelns auf. So ist das Ziel, Geld anzureichern kein finales Ziel, denn es macht nur Sinn, wenn mittels des Geldes ein anderes Ziel erreicht werden kann. Der große Philosoph benötigte nicht vieler Worte, um die Bedeutung des Strebens nach Geld oder des Strebens nach Macht in seinen ordinalskalierten Stellenwert einzuordnen.

14. Kontrastierende Irritationen mit anderen Wertschätzungen

Das sonderbare Phänomen des Kaptalismus, dem Max Weber seine berühmte Protestantismusthese widmete oder an dem sich der mitunter recht aggressive Karl Marx abarbeitete war für Aristoteles noch kein Thema. Aristoteles attestierte der geld- oder machtorientierten Verhaltensdominanz mit spielerischer Leichtigkeit die volle Untauglichkeit des Verhaltens auf dem Wege zum glückerfüllten Leben.

Dagegen weiß Aristoteles bereits zu berichten, dass der wohl Tugendhafte mit Lust handelt, eine Erkenntnis, die sich in der Motivationspsychologie bis heute bestätigt.

Aristoteles war davon überzeugt, dass ein eingeübtes Vermeidungsverhalten zum Scheitern des Lebens führt, während die lustvolle Begegnung neuer Anforderungen ganz nebenbei auch zur Veredlung des Charakters führt.

Wie unbegnadet gegenüber Aristoteles waren leider so viele Pädagogen,die ihm folgten...

Heute finden sich endlich in der psychologischen Literatur so genannter 'Teufelskreise der Angst', die durch ein entsprechendes Fehlverhalten entstehen. Die Literatur zur Psychologie der Angst ist in der Regel bei weitem weder so faszinierend noch so potentiell qualitativ fruchtbar, wie Aristoteles Beitrag zur Förderung des guten Lebens.

16. Schulung des Denkens

Auf der Suche nach gehaltvollen Pädagogen, auf der Suche nach Pädagogen, die empfehlenswerte Modelle präsentieren, die eine Orientierung an einer qualitativ hochwertigen Struktur ermöglichen, kann Aristoteles 'Nikomachische Ethik' auch heute aus sozialarbeiterischer und musiktherapeutischer Sicht sehr empfohlen werden.

Die Schulung des Denkens, die Schulung zur Übernahme von Verantwortung, die Befähigung zum selbstverantwortlichen Handeln in einer sozialen Gemeinschaft werden von Aristoteles betont. Aristoteles, der den Menschen als politisches Wesen (zoon politikon) sieht, das die Frage nach dem richtigen oder guten Leben stellt, ist vielleicht heute mehr als zuvor 'up to date'.

Aristoteles läßt sich pädagogisch, therapeutisch, philosophisch, politisch lesen, je nach Fragestellung. Das Spiel der Ordnung, die Bemühung des Einsortierens in Ober- und Unterbegriffe, hat nach Aristoteles vielen gefunden. Aristoteles kann als früher Meister der Reduktion von Komplexität erachtet werden. Wer jedoch die dynamische gestalterische Kraft dieses Philosophen unterschlägt und die handlungsorientierte Philosophie mit entdynamisierten Kategoriensystemen verwechselt, muss sich jedoch nicht langweilen, denn es gibt für ihn noch einiges zu tun.

Viel Spaß mit diesem vitalisierenden Philosophen wünscht Ihnen

Gerd Fierus

Literatur:

Wolf, Ursula (2006) Nikomachische Ethik. Übersetzt und herausgegeben von Ursula Wolf. Reinbeck: Rohwohlt.

Jaud, Tommy VOLLIDIOT. Der Roman. 3. Aufl. 2006 (2004), Frankfurt: Fischer.

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