Einleitung
Der Mensch ist ein soziales Wesen. Ausmaß und Qualität sozialer Zuwendung können jedoch in entscheidender Weise darauf Einfluß nehmen, wie Fähigkeit und Talent entwickelt werden.
"Talent ist kein Zufall der Geburt. In der heutigen Gesellschaft scheinen viele Menschen zu glauben, daß sie, ohne Talent geboren, an dieser Tatsache nichts zu ändern vermögen, und sie fügen sich deshalb einfach in das, was sie als 'Schicksal' ansehen. Folglich gehen sie durch das Leben, ohne es vollends zu erleben oder jemals seine wahren Freuden kennenzulernen. Das ist die größte Tragödie des Menschen." (Suzuki, 1975, 9)
Wie wachsen Kinder auf? Was können Eltern ihren Kindern mitgeben, damit diese ihre natürlichen Veranlagungen entfalten können?
Shinichi Suzuki hat sich mit diesen Fragen auseinandersetzt, und kommt zu dem Schluss, dass ein unsympathischer, unangenehmer Erwachsener das Ergebnis einer falschen Erziehung ist. (vgl. Suzuki, 1975,9)
Der große Musikpädagoge weist darauf hin, dass wir unsere Geburt in diese Welt nicht beeinflussen können. Wenn wir einmal geboren sind, müssen wir jedoch
a) bis zum Tode mit uns selbst leben und
b) uns dabei der unausweichlichen Frage stellen, wie wir leben sollen.
Anstatt bei dieser lebenslangen Frage vorschnell entmutigt aufzugeben oder zu resignieren, gelte es, etwas Gutes aus unserem Leben zu machen. Hierzu hat Shinichi Suzuki sein heute nach wie vor aktuelles Buch 'Erziehung ist Liebe' geschrieben.
"Durch bloßes Denken und Theoretisieren kann die Entwicklung von Fähigkeiten nicht erreicht werden, sondern nur durch die Verbindung von Handlung und Übung. Ein untätiger Mensch wird keine Fähigkeiten entwickeln." (Suzuki, 1975, 34)
Nun sind viele Menschen wenig motiviert, sich auf ihr eigenes Leben zu konzentrieren. Viele Menschen, die sich in ihrem Leben nur noch wenig der Entwicklung eigener Fähigkeiten verschreiben, können sich jedoch noch für die Entwicklung der Fähigkeiten anderer engagieren.
Ein beliebte Zielgruppe: die Kinder.
Doch auch, wenn das Augenmerk den anderen gilt, ist die Frage zu stellen, wie und wodurch die Ausbildung von Fähigkeiten gefördert werden kann.
„Jeder Mensch wird mit natürlichen Veranlagungen geboren. Um zu leben, paßt sich ein neugeborenes Kind seiner Umgebung an und erwirbt dabei verschiedene Fähigkeiten. ... Viele Kinder wachsen in einer Umgebung auf, die sie hemmt, ja schädigt, und allgemein nimmt man an, daß sie so geschädigt geboren sind; sie selbst glauben natürlich auch daran. Aber das ist ein Irrtum.“ (Suzuki, 1975, 9)
Shinichi Suzuki arbeitet dann die ungeheure Bedeutung der sozialen Einflüsse heraus, mit denen Kinder von Beginn ihrer Geburt an konfrontiert werden.
In hohem Maße entscheident ist für Suzuki bereits das, was der Säugling wahrnimmt. Nicht nur der Pädagoge Suzuki, sondern auch die entwicklungspsychologische Forschung betont den hohen Stellenwert der frühesten Kindheit für den weiteren Entwicklungsverlauf. Suzuki hebt Aspekte besonders die Aspekte des Modelllernens und die Bedeutung strukturierter Übung und deren Wiederholung hervor.
Es gilt nach wie vor: Zu achten ist auf die Qualität dessen, was dem Kinde eine vorbildliche Orientierung bieten könnte. Genauso wie Kinder in der Lage seien, den jeweiligen Dialekt ihrer sozialen Umgebung zu erlernen, können sie auch eine fehlerhafte Intonation ihrer Mutter erlernen, die auf ihrer Weise immer wieder ein Wiegenlied singt. Genauso werde gelernt, und das erschreckende: Kinder können auf diese Weise systematisch lernen, falsch zu singen. Und dieses gelte nicht nur für das im engeren Sinne musikalische Lernen, sondern sehr viel genereller, für das Lernen überhaupt!
Wer die Bedeutung der frühen Lebensjahre ignoriert, wer außerstande ist, dem Kind ausreichende Anreize und Impulse zur Ausbildung von Fähigkeiten zu bieten, wird dem Entwicklungspotenzial junger Kinder nicht gerecht.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage der öffentlichen Verantwortung für den gesellschaftlichen Nachwuchs. Darf sich die Gesellschaft weitherin im bisherigen Ausmaß ihrer Verantwortung erziehen? Das Problem der Kindesvernachlässigung stellt sich auch der Gesellschaft. Dieses Problem stellt sich insbesondere dann, wenn Eltern selbst über extrem unzureichende Fähigkeiten und Ressourcen verfügen, die zu einer ausreichenden Erziehung ihrer Kinder notwendig sind. Der derzeitige Tendenz soziale Elendsviertel zu generieren, werden nicht nur duch die öffentlich breit diskutierten Hilferufe der Lehrer an der Berliner Hauptschule demonstriert.
Soll unsere Gesellschaft weiterhin wertvolle Chancen verpassen, den Kindern unserer Bevölkerung geeignete Hilfen zur Förderung ihrer Entwicklung mitzugeben? Nein, der strukturelle Innovationsbedarf darf nicht mehrignoriert werden, adäquates handeln ist jetzt gefragt. Das kann nicht weiterhin auf morgen verschoben werden!
Die Problemlösung hat nicht im geringen Umfang auch mit der Verteilungfrage öffentlicher Gelder im Erziehungssystem zu tun. Es ist schon nachvollziehbar, dass Schwache und Zauderer diese Aufgabe lange gemieden haben, denn die Verteidiger von Besitzständen sind oft wiederständig gegen notwendige Innovation.
Die gesellschaftliche Entwicklung macht jedoch deutlich, dass unser Erziehungs- und Schulsystem längst nicht mehr auf dem neuesten Stand ist. Hier sind strukturelle Innovationen erforderlich.
Finden wir systematische Hilfen für Kinder unterhalb des Tagesstättenalters? Welche erzieherischen Hilfestellungen kommen bei den 0-3-jährigen Kindern überhaupt an?
Angesichts der Zunahme des sozialen Elends und deren Folgen für die Mehrheit der Bevölkerung darf nicht mehr nur über Reformbedarf geredet werden, wenn Handlungen so dringend erforderlich sind. Die Ausschreitungen der Gewalt an den Hauptschulen werden zunehmend als Symptom einer innenpolitischen Fehlentwicklung diskutiert.
Immerhin geben die erschreckenden sozialen Folgen wichtige handlungsaktivierende Impulse zum Aufbau eines effizienteren und effektiveren Schul- und Erziehungssystems. Hier greift keine Feuerwehraktion kurzfristiger Krisenhilfe mehr, hier gilt es eine langfristige Perspektive in verantwortungsvollem Augenschein zu nehmen. Dabei dürfen aber auch die Erkenntnisse der wissenschaftlichen Pädagogik, der Sozialpsychologie und der soziologischen Forschung nicht mehr ignoriert und vernachlässigt werden. Argumente einer scheinökonomisch, zu kurzfristigen und simplifizierten Denkart sollten dabei als solche aufgedeckt werden. Dysfunktionale Besitzstandswahrung müssen bei grundsätzlich anzustrebenden Veränderungen hinterfragt und aufgedeckt werden werden, wenn strukturpolitische Entscheidungen vorangetrieben werden sollen, die den Aufbau optimierterer Strukturen im Erziehungs- und Schulsystem ermöglichen werden.
Bereits Shinichi Suzuki hat auf die Mängel von Erziehungssystemen hingewiesen, die sich mit Kindern erst auseinandersetzen, wenn diese bereist 5 Jahren alt sind. Hier werden Channcen verpasst. Und nicht nur der japanische Pädagoge hat auf die immense Bedeutung der ersten Entwicklungsjahre hingewiesen. In der Ausgestaltung der Strukturen der pädagogischen Praxis finden sich jedoch seit Jahrzehnten nur unzureichende Konsequenzen. Weiterhin herrscht eine erhebliche Diskrepanz zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und Verwaltungshandeln, weiterhin erfolgt das pädagogische Handeln unter inadäquaten Strukturen.
Diskrepanz und mangelhafte Struktur drückt sich aus durch:
These 1: Mangelnde erzieherische Hilfen für Kinder bis zum Kindertagesstättenalter
Nach wie vor mangelt es an erzieherischen Hilfen für Kinder, die noch nicht so alt sind, dass sie in Kindertageseinrichtungen aufgenommen werden.
These 2: Qualitative und quantitative Verbesserung öffentlicher Erziehungsleistungen für Kindertagesstätten und Grundschulen sind dringend erforderlich.
Strukturelle Innovation beinhaltet auch eine veränderte Weichenstellung für monetäre Ströme, konkret: Es muss mehr investiert werden bei der Förderung junger und jüngster Kinder.
Wer sich mit Kindern in Kindertagesstätten zu tun hat, ist von der Ausbildung her
ein Erzieher. Hier werden Erkenntnisse und Wissen eines Hochschulstudiums nahezu überhaupt nicht eingefordert. Wir wissen heute aber, nach einem Jahrhundert Psychoanalyse, nach Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie der frühen Kindheit, wie frühzeitig hier investiert werden sollte! Tatsächlich ist jedoch gerade hier nur eine ausgesprochen schwache Struktur an Hilfen vorhanden.
Denken wir in Begriffen wie wirtschaftlich, effizient und effektiv, dann ist dies ausgesprochen bedauerlich.
Hier sei etwa auf das verhältnismäßig geringen Renommee von Grundschullehrern gegenüber Lehrern der Oberstufe verwiesen; noch gravierender zeigt sich dieses Verhältnis, wenn die Statuszuschreibung von Hochschulprofessoren und Erziehern Grundschullehrern bedacht wird. Warum wird gesellschaftlich denjenigen so wenig Wertschätzung entgegengebracht, die an den entscheidenden Dreh- und Angelpunkten der zukünftigen gesellschaftlichen Entwicklung arbeiten? Warum wird hier nicht ausreichend investiert?
Zusammenfassung
So soll denn noch einmal die gesellschaftlich relevante Frage gestellt werden:
Wie und wodurch kann die Ausbildung von Fähigkeiten begünstigt werden?
Und diese Frage ist zu ergänzen: Zu welchen Zeitpunkten muss mit welchem Einsatz gefördert werden?
verwendete Quelle:
Suzuki, Shinichi (1975) Erziehung ist Liebe. Hallaar (Belgien): Nieuwmolen Verlag.
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