2006/03/30

Was ist Wissenschaft?

Ein verbreitetes wissenschaftliches Ziel besteht darin, verallgemeinerungsfähige Aussagen zu finden. Vom wissenschaftstheoretischen Standpunkt des Kritischen Rationalismus betrachtet, besteht die wissenschaftliche Zielsetzung insbesondere darin, allgemeine Sätze zu überprüfen. Dies kann entsprechend der Anhänger des Kritischen Rationalismus nicht durch Verifikation, sondern nur durch ernsthafte Bemühung um Falsifikation erfolgen. Sir Karl Raimund Popper wies in seiner Logik der Forschung nach, dass ein allgemeingültiger Satz niemals verifiziert werden, wohl aber falsifiziert werden kann. Für die auf der wissenschaftstheoretischen Position von Karl Popper aufbauenden Kritischen Rationalisten besteht wissenschaftliches Arbeiten entsprechend vor allem darin, mit Hypothesen in einer sehr kritischen Weise umzugehen. Damit setzten die Kritischen Rationalisten der wissenschaftlichen Methode sehr enge Grenzen: letztlich wird die systematische Bemühung Hypothesen zu falsifizieren als das wissenschaftliche Verfahren definiert.

Die wissenschaftstheoretische Position des Kritischen Rationalismus blieb jedoch nicht unkritisiert. D.h. es gibt mit guten Gründen auch andere wissenschaftstheoretische Positionen.

Zu bedenken ist, dass an den Universitäten die unterschiedlichsten Disziplinen mit wissenschaftlichem Anspruch auftreten.

Hier finden sich auch Disziplinen, die nicht nur den status quo ergründen möchten, sondern deren explizites Ziel gerade in der Veränderung des status quo bestehen. Zu diesen Disziplinen gehören beispielsweise die wissenschaftlich orientierte Pädagogik und die wissenschaftlich orientierte Therapie. Die hier verwendete Formulierung weist allerdings bereits auf ein Problem: Ist Pädagogik überhaupt eine Wissenschaft? Ist Therapie eine Wissenschaft? Kann Ästhetik überhaupt eine Wissenschaft sein?

Ein Lösungsversuch bestand beispielsweise darin, das Wort Therapiewissenschaft zu generieren und entsprechend die Therapie von der Therapiewissenschaft zu differenzieren. Damit wurden jedoch nicht alle von der Wissenschaftstheorie aufgeworfenen Fragen beantwortet und Probleme gelöst.

Immerhin geht es beispielsweise in einer wissenschaftlichen Disziplin, wie der Pädagogik weniger darum, zu beschreiben was ist, sondern Methoden zu entwickeln, mit denen Lernprozesse, also Veränderungsprozesse optimiert werden können. Hier setzt bespielsweise das Resilienz-Coaching von Dr. Yolanda Bertolaso an.

"Die als Hyperbaton gewählte Stellung der Theorien von Hörmann und Espenak ... Beide legen Schwerpunkte auf die Pädagogik, die künstlerische Kompetenz des Therapeuten, beide betonen die kognitive Umstrukturierung durch körperlich-künstlerische Prozesse, beide sind nicht defizitorientiert. Bei K. Hörmann geschieht diese Umstrukturierung in den Phasen Wahrnehmungsorganisation, Erlebnisvertiefung und Handlungsaktivierung."

schreibt Bertolaso (2004, 173), die den Begriffen 'knowleadgeable' und 'purposeful' eine wichtige Bedeutung in einer künstlerisch wie wissenschaftlich anspruchsvollen, ethischen und verantwortungsvollen Tanztherapie zuschreibt. (a.a.O.)

Auch eine soziale Arbeit, die sich der Methode der aktivierenden Befragung von Stadtteilbewohnern bedient, geht es weniger darum, zu erkunden, was derzeit der aktuelle Stand ist, als vielmehr, den aktuellen Stand zu verändern. Hier geht es vor allem darum resignierte Stadtteilbewohner zu aktivieren, ihnen die Erfahrung zu vermitteln, dass es sich lohnt, sich politisch für die eigenen Interessen einzusetzen, etc.

Tatsächlich kann heute das Konzept der Handlungsaktivierung in der wissenschaftlich orientierten Musiktherapie nicht mehr ignoriert werden. So weist auch Professor Dr. Dr. Karl Hörmann entschieden darauf hin, dass Diagnostik allein in der Therapie nicht hinreichend ist. Diagnostik, Erlebnisintensivierung und Handlungsaktivierung bilden bei Hörmann die Synopse der Prinzipien der wissenschaftsorientierten Musiktherapie als Angewandte Musikpsychologie. (vgl. Hörmann, 2004, 283-286)

Diese Beispiele können auch verdeutlichen, dass es bei systematischen, an der wissenschaftlichen Forschung orientierten Forschungsaktivitäten nicht ausschließlich darum gehen kann, Hypothesen zu falsifizieren und die Generierung von Hypothesen aus dem wissenschaftlichen Bereich zu verweisen, wie es im Kritischen Rationalismus proklamiert wird.

Gerade das für die Praxis relevante Forschungsinteresse in Pädagogik und Therapie richtet sich insbesondere auf die Möglichkeiten zur Veränderung und nicht auf den statischen Verbleib.

Vor diesen Ansprüchen an die wissenschaftliche Forschung mag deutlich werden, dass die Definition von Wissenschaft, die Operationalisierung dessen, was wissenschaftliches Arbeiten ist, längst nicht so eindeutig bestimmt ist, wie es wissenschaftstheoretischen Dogmatikern oder wissenschaftstheoretischen Ignoranten womöglich lieb wäre. Eine unreflektierte Simplifizierung ist heute in der Wissenschaft nicht mehr angezeigt.

Quelle:

Kromrey, Helmut (2006)Empirische Sozialforschung. 11. Aufl. Stuttgart: Lucius Lucius UTB

Prim/Tilmann (1979)Grundlagen einer kritisch-rationalen Sozialwissenschaft. 4. Aufl., Heidelberg: Quelle & Meyer.

Bertolaso, Yolanda (2004) Resilienz in Pädagogik und Künstlerischer Tanztherapie. Münster: Paroli.

Hinte, Wolfgang; Karas, Fritz (1989) Studienbuch Gruppen- und Gemeinwesenarbeit. Neuwied: Luchterhand.

Hörmann, Karl (2004) Musik in der Heilkunde. Lengerich: Pabst Science Publishers.

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