2021/06/18

[re]visiting MOERS FESTIVAL - Buchbesprechung

Ein Erlebnis der besonderen Art lockt jedes Jahr eine bunte Schar nach Moers.
Das moers festival ist Dreh- und Angelpunkt der innovativen Musikszene, Schmelztiegel neuer Musik und ein Treffpunkt des pulsierenden Lebens. Die Festivalbesucher kommen aus unterschiedlichen Gründen. Sie wollen das vitale Leben genießen, die Entspannung des freien Flusses erleben, sich inspirieren und emotionalisieren lassen. Sie kommen um einfach mal abzuschalten oder umzuschalten, vielleicht auch nur um einmal im Jahr an vier Tagen der kanalisierenden Gleichschaltung mainstreamfixierter Medien zu entgehen. Wie auch immer: einmal tief durchatmen und sich auf etwas Neues einlassen. Hier erinnern wir uns an die Kraft der Improvisation. Neue Ideen und Konzepte inspirieren dazu sicch von eingefahrenen Hör- und Spielgewohnheiten zu lösen. Der Wind der Freiheit und das selbstbestimmte Leben wehen die Fremdbestimmung an den Bordstein und der Atem löst sich, wenn die zwanghafte Engführung und die Kanalisierung der Möglichkeiten überwunden wird. Überwundene Einschränkungen und erweiterte Freiheitsgrade lassen uns neue Möglichkeiten, neue Chancen entdecken. Beim Moers Festival zeigt sich das Feuer der vitalen Musik. Dazu gehört auch konzeptorientierte Musik jenseits eingespielter Reflexe und Routinen. Es sei daran erinnert, dass Johann Sebastian Bach ein Meister der Improvisation war. Er war ein Kreativer, der nach vorne schaut. Die Tradition der Kreation zu bewahren, hat sich das Moers Festival auf die Fahne geschrieben. Beim Moers Festival geht es nicht um die Bewahrung der Konserve. Beim Moers Festival geht es auch nicht um industrielle Musikvermarktung zum Zwecke der Gewinnmaximierung. Beim Moers Festival geht es auch nicht um eine durch politische Lobbyarbeit oder um eine bürokratistisch angelegte Musikförderung. Das Moers Festival hat wohl eher eine experimentelle Tendenz, die sich vor der musikalischen Grundlagenforschung der Kreativität verneigt. Vielleicht geht es auch einfach um den freien Blick, den sich von überkommenen Konzepten befreienden Blick nach vorn. Es geht um die Erweiterung von Freiheitsgraden und um die Realisation demokratischer Konzepte mit den der Musik innewohnenden Chancen und Möglichkeiten. Wir können es aber auch viel einfacher sagen: Beim Moers Festival können wir mit kreativen, freien Geistern das vitale Leben feiern und einfach mal richtig Spaß haben.
[re]visiting MOERS FESTIVAL ist das Buch zum 50. Jubiläum des Moers Festivals. Die Atmosphäre des moers festivals wird hier spürbar dargestellt. In der Dokumentation gibt es wirklich viel zu entdecken. Über 50 Bühnenakteure, Festivalbesucher, Festivalmitarbeiter, Festival-Fotografen und Zeitzeugen kommen hier zu Wort. Die multiperspektivische Sicht ist sehr anregend und spiegelt die grundlegende konzeptionelle Idee des Moers Festivals auf eine ausgesprochen stimmige Art und Weise. Das Moers Festival wird als ein soziales auf die Freiheit fokussiertes Phänomen beschrieben. Aus dem Samen hat sich ein bunter Mischwald mit den unterschiedlichsten Trieben und Früchten entwickelt. Das Buch dokumentiert das Festival aus vielen Perspektiven. Es ist leichtfüßig geschrieben, voller Energie und Kraft, eben, wie das Moers Festival selbst. Eine phantastische Dokumentation, die uns die Augen öffnen kann für Aspekte, die uns bislang verschlossen blieben. Sie zu lesen bereitete mir sehr viel Spaß, inspiriert mcih und regt mein Vorstellungsvermögen an. Hier werden so viele kreative Ansätze vorgestellt. Das ist ganz toll. Die unterschiedlichsten Frauen und Männer sind an dieser kollektiven Erzählung beteiligt und eröffnen dabei neue Perspektiven auf die Geschichte der freien Musik. Sie erinnern mich auch an die befreiende Funktion, die einer ganz beonderen Musik zu eigen ist. Sie berichten über ihre unterschiedlichen Erfahrungen auf dem Festival. Erkenntnisse werden beschrieben, die das Leben verändert haben. Die Statements sind oft kurz und bündig, aber packend und wir werden mitgenommen auf so manche Reise. Wir erfahren, wie Musik das Leben verändern kann. Es ist einfach schön zu erfahren, was Menschen auf die Beine stellen, wenn sie ihre Freiheit entdeckt haben und nutzen. ich werde daran erinnert, wie beeindruckt ich jedes Mal auf dem Festival bin. Das Moers Festival ist ein Festival der Möglichkeiten, ein Fest der gemeinsamen Entwicklung, eine erlebbare demokratische Angelegenheit. Es ist erstaunlich zu erleben, was Demokratie bedeuten kann, wenn sie wirklich gelebt wird. Das Moers Festival ist tatsächlich eine unglaubliche Gemeinschaftsleistung. Das Herausgeberteam hat seine Aufgabe hervorragend bewältigt, ein ganz auf das Moers Festival abgestimmtes Konzept für die Dokumentation entwickelt und es damit geschafft, die Atmosphäre stimmig wiederzugeben. Das Moers Festival wird als Schmeztiegel der innovativen Musikszene in einer beeindruckenden Weise dargestellt. Die Möglichkeiten, die Freiheitsgrade werden aufgezeigt. Die Dokumentation gibt einen wirklich einfachen Einstieg auch in die intellektuelle Dimension ausgewählter musikalischer Konzepte. Die Doku ist ähnlich beeindruckend und inspirierend wie das Festival selbst. Der Uneingeweihte mag das Moers Festival bislang vielleicht noch als ein Festival der Aussteiger und der Intellektuellen wahrgenommen und links liegen gelassen haben. Mit dieser Dokumentation kann sicher manches Vorurteil verrändert werden. Musik ist ein reiches Feld, natürlich gibt es auch konzeptorientierte Musik und Musiker, die ihre Konzepte umsetzen und auf die Bühne bringen. Musik bietet aber auch die Möglichkeit mit ihr etwas zu sagen und stimmungsvoll auszudrücken. Kultur ist ein reiches Feld, dass nicht nur aus konservierter klassischer Musik besteht, die möglichst unverändert reproduziert werden möchte. Das wäre wie freie Flusse zu kanalisieren, einfach unglaublich begrenzt und wie wir aufgrund der Folgen, z.B. den aktuellen Überschwemmungen heute sehr wohl wissen, auch etwas kurzsichtig.
Es ist eben ein Irrtum die Genialität der Einfachheit mit dem einfachen Denken zu verwechseln. Wer nur den Mainstream sieht, differenziert einfach nicht mehr. In der realen Welt ist das aber nicht gut, denn es gibt zu vieles, was positiv verändert werden müsste. Im Leben kann sich niemand auf das bislang Erreichte ausruhen, den das Leben geht voran. Wenn etwas beständig ist, dann ist es die Veränderung. Das zu vergessen mag die Gnade des Alterns sein, des sterbenden Alterns. Innovative Kunst ist der wahre Reichtum und nur aus einer ganz bestimmten verengten wirtschaftlichen Perspektive arm. Innovative Kunst ist reich und generativ. Das Moers Festival setzt nicht auf Kanalisation, nicht auf Konserve, nicht auf Gewinnmaximierung und nicht auf die maximale Verwertbarkeit. Das Moers Festival setzt für mich auf Freiheit, Kommunikation, Entwicklung und freien Fluss. Wer zum Moers Festival pilgert, steht wohl eher auf spielfreudige Musiker, die einander zuhören, miteinander interagieren, sich untereinader Raum geben können und die darüber hinaus auch imstande sind, gemeinsam miteinader zu improvisieren. Die Fähigkeit spontan auf einander reagieren zu können, gehört zur vitalen Ausstattung eines Interaktionskünstlers, der in der LAge ist jenseits ausgetretener Pfade zu musizieren. Die Entwicklung in der Musik ist dabei schon etwas ganz Besonderes. Das Moers Festival ist nicht nur ein Festival der revolutionären Außenseiter, es ist ein Festival für Musiker, die imstande sind Wege jenseits des Mainstreams zu gehen. Wer an solchen Experimenten Gefallen findet, ist auf dem Moers Festival präsent. Solche Musiker haben hier die Regie in die eigenen Hände genommen. Der Hot Spot Moers steht nicht umsonst in der internationalen Musikszene für die innovative, freie, neue Musik und für das freie Denken freier Menschen: "Über das moers festival zu sprechen fällt mir leicht. Es ist ein Stück meiner Sozialisation" sagt der Komponist, Bandleader, Saxophonist Jan Klare, der in den letzten Jahren die Sessions in Moers moderiert. In Revisitimg (S.25) berichtet Jan Klare, wie ein Festivalbesuch seine Biografie veränderte. [re]visiting MOERS FESTIVAL beschreibt das moers festival auch als Kristallisationszentrum der gesellschaftlichen Befreiungsbewegung. Aufgrund rassistischer Unterdrückung, Nichtbeachtung und Ausgrenzung zog es viele Musiker von Amerika nach Europa und zum moers festival, da hier Demokratie und Freiheit gelebte Agenda war und auch bleiben sollte. Der Stellenwert des international ausgerichteten Festivals für den Demokratisierungsprozess ist schon sehr hoch. Das als Gegenentwurf zum Mainstream konzipierte Moers Festival "wollte . als großes (Sozial-Experiment verstanden werden, in dem der Austausch von Akteur:innen und Zuschauer:innen der Plan war." (S.7) Für das Publikum des moers festivals, zu dem - wen wundert es - stets viele Musiker gehörten, hat Improvisation einen sehr hohen Stellenwert.
"We are never ready for anything. And that's Beautiful" sagt die Schlagzeugerin Maria Portugal auf S. 6 und huldigt mit ihrem Statement der Kunst der Improvisation. Und tatsächlich ist das moers festival eine Hochburg für die Kunst der musikalischen Improvisation:
"Von Steve Lacy ist eine berühmte Anekdote überliefert: Ob er binnen zehn Sekunden sagen könne, was der Unterschied zwischen Improvisation und Komposition sei. Seine Antwort war listig wie verblüffend einfach: Der Komponist kann sich alle Zeit der Welt nehmen, um sich zu überlegen, was er in 10 Sekunden sagen will, der Improvisator hat nur diese 10 Sekunden." (Felix Klopotek: Improvisationskunst, revisiting moers festival, 143).
Resumee: Ein hervorragendes Buch für alle die das moers festival lieben oder lieben lernen möchten.

[re]visiting MOERS FESTIVAL, eine Publikation der Moers Kultur GmbH, herausgegeben von Kerstin Eckstein und Katharina Leneke unter Mitarbeit von Joshua Eckstein und Lousa Kron.

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